Still mäntelt der Himmel
Der junge Schwärmer, der unbefangen sein Herz sprechen lässt: Eine frühe Erzählung des wunderbar unzeitgemäßen Johannes Kühn
Von ULRICH RÜDENAUER
Zuweilen wird sich der Literaturbetrieb selbst ein wenig verdächtig, und dann schielen dessen Auguren an die flattrigen Ränder der literarischen Szene. Dorthin, wo es stiller ist und ein bisschen seltsam zugeht. Ganz am Rande tummeln sich die Sonderlinge, Eigenbrötler und "Winkelgäste": jene Autoren, die sich bewusst ins Abseits stellen und gerade dadurch überhaupt erst zu Dichtern reifen können. Alles Laute und Forcierte scheint ihnen fremd. Sie kommen aus einer verlorenen, langsameren Zeit.
Der späte Ruhm des Lyrikers Johannes Kühn verdankt sich ein wenig diesem Klischee des genialisch-naiven Eckenstehers. Die saarländische Provinz war sein Kosmos von frühester Kindheit an. Sein Vater war Bergarbeiter, Kühn ist die Arbeitswelt der kleinen Leute mehr als vertraut. In der Abgeschiedenheit schrieb er seit den fünfziger Jahren, Gedichte vor allem, aber auch Erzählungen, Dramen und Märchen - ungewürdigt von der Öffentlichkeit, allein für sich. Es folgte in den achtziger Jahren ein ausdauerndes literarisches Schweigen, und erst spät, in den Neunzigern, setzte seine Produktion wieder ein. Dank einiger bekannter Fürsprecher wie Ludwig Harig oder auch Peter Rühmkorf konnte man diese dann auch in Buchform bestaunen: Lakonisch schmucklose Lyrik aus der Arbeitswelt, unzeitgemäße Naturgedichte in hohem lyrischen Ton, den sich nur einer bewahren kann, der das Modische scheut, nein, es gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Klopstock, Hölderlin oder Trakl finden bei Kühn ihren Nachhall. Über zehntausend Gedichte hat er verfasst, drei pro Tag. "Eine Glückshaut/ fand ich nie an mir,/ geboren bin ich/ zu leiden,/ zu schlafen unter dem Nordstern", heißt es in einem davon.
Kein glücklicher Mensch
Man darf sich Kühn nicht als glücklichen Menschen vorstellen, nicht als Idylliker oder Heimatdichter. Ihm sind die Brüche des modernen Daseins, die Aporien des Lebens, das schmerzhafte Auseinanderklaffen von Natur und Zivilisation offenkundig. An einer frühen Erzählung lässt sich jetzt nachvollziehen, was den jungen Johannes Kühn umtrieb und auf sein Schreibgleis setzte. Zum siebzigsten Geburtstag des Autors hat der Hanser Verlag Kühns Erzählung Ein Ende zur rechten Zeit ausgegraben und veröffentlicht.
Entstanden ist das Werk etwa um das Jahr 1958, Kühn war damals Student an der Schauspielschule Saarbrücken. Wie sein Held in der Erzählung, der Student Hans, verdiente er sich das Geld fürs Studium mit einem Ferienjob in einem Sägewerk. "Morgens treten wir ins Werk und beginnen mit der unerbittlichen Sirene und hören mit ihr auf. Es kann regnen, wir merken es kaum, der Sommer kann sich zum Winter wandeln, arbeitend merken wir es kaum. Nach unserer Schicht, wenn wir müde und verschwitzt zu den Umkleideräumen gehen, fängt eine andere Gruppe von Menschen zu arbeiten an, Mittagsschicht nennt man es." Unmerklich wird dem jungen Mann die Konfrontation mit der Arbeitswelt zur Qual. Er fühlt sich hineingeworfen in eine unbeherrschbar gewordene "Maschinenzeit", und die eisernen Ungetüme erscheinen ihm wie "Götzen".
Ein Arbeitsunfall, bei dem einem jungen Mädchen der Unterarm abgetrennt wird, stürzt den Studenten in noch größere Zweifel über den Sinn des technischen Zeitalters. Der Ekel vor dem Fortschrittsglauben der fünfziger Jahre verstärkt sich durch die Nachrichten von einer noch größeren Gefahr: Die USA testen, so hört es der Student im Radio, wie man die Erde auf einen Schlag vernichten kann.
"Wir mächtigen Menschen, was ist die Pest gegen die Atomvernichtung, die uns bedroht. Blick zum Fenster hinaus. Nur Wald steht vor dem Fenster stolz. Trägt er zum letzten Male Laub? Schmilzt sein Lebensmark nicht aus? Kann er nicht plötzlich abwelken? - Drückt nicht plötzlich in der Welt einer einen Knopf, wie das im Werk war, und alle Maschinen heulen? -"
Der Held leidet sensibel an den hybriden Erscheinungsformen seiner Zeit. Und er leidet auch mit Genuss. Es ist eine eindringliche, von Pathos keineswegs freie Stimmung, die Kühns Text trägt. Der junge Autor lässt seinen verunsicherten Erzähler eine Sprache erproben, die ihn so weit wie möglich von einem Alltag wegführt, der schal und gefahrvoll erscheint. Sie ist naiv und poetisch zugleich, jugendlich und schwelgerisch. Man kann es auch anders sagen: Über 130 Seiten ist diese Sprache nur schwer zu ertragen. Der Stil scheint direkt aus der Oberprima zu kommen, wo man Hölderlin, Goethe und die antiken Klassiker gelesen hat. Um diese äußerst weihevolle Literatursprache zu rechtfertigen, hat sich Kühn der Form des Briefromans bedient und einen eigentümlichen Adressaten für seine Aufzeichnungen gewählt: Das angesprochene Gegenüber ist kein geringerer als Cicero, auch so einer, der aus den Schulbüchern des Gymnasiasten in die Schriftsteller-Kladde gewandert ist. "Wie aber kam es, daß ich mich mit einem Weisen des Altertums, dem man viel Menschlichkeit zuspricht, unterhielt, einsam mit den Menschen um mich herum, wie kam es?"
Die Frage ist durchaus berechtigt: Wem das Jetzt als Verfallsepoche erscheint, schaut sich gerne nach Gewährsleuten in früheren Jahrhunderten um. Nach jemandem, der so viel Menschlichkeit besitzt, dass er die Sorgen des jungen Artisten versteht - auch wenn dem Brief- und Gedankenfreund die konkreten Erfahrungen des Absurden, die Höllenmaschinen, Mopeds und Atombombentests erst erklärt werden müssen. Und sie werden erklärt: Das ist, wenn der Erzähler dazu ansetzt, zuweilen betulich und trotz schöner poetischer Momente etwas simpel gestrickt. Aber Kühns Frühwerk ist interessant. Es enthält nicht nur Motive, die auch den Lyriker auf seiner langen Wegstrecke begleiten sollten. Es greift zudem Themen auf, die in den fünfziger Jahren eigentlich keine waren, zumindest nicht als literaturfähig galten.
Ein Ende zur rechten Zeit ist nämlich ein Öko-Roman avant la lettre; die trostspendende Natur, in die es den Erzähler zieht, ist zwar dank des Menschen ebenfalls bedroht, aber doch lässt sich in ihr Kraft schöpfen. Sie ist eine Quelle für Bilder und Sprachspiele, sie ist für Kühn der Ort der Literatur. "Still mäntelt der Himmel seine ernsten Falten herab. Nah wandet der Wald an das Haus, laubt mit seinen dunkelgrünen Wipfelwolken empor, und die weißen wirklichen Wolken des Himmels flattern tiefer. Der Mond hat sie gefüllt mit seinem Licht. Tiefer! Als könnten sie nicht anders von der leuchtenden Fracht beschwert, doch landen sie nicht. Wer glaubt nicht, daß dieser herrliche Abend das Tor schloß hinter dem Tag, an dem ich zu arbeiten begann."
Ein Ende zur rechten Zeit lässt in manchen Passagen schon den späteren Meister erkennen. Aber auch den jungen Schwärmer, der unbefangen sein Herz sprechen lässt. Das ist mitunter unbedarft und komisch. Der Autor hatte diese Wirkung damals wohl schon geahnt und deshalb ans Ende seines Buches ein vorsichtiges Resümee gesetzt: "Wer meine Ferienaufzeichnungen nicht versteht und spottet, begreift vielleicht doch meinen Seufzer: Ja, man kann so vieles versichern in dieser Welt durch große Gesellschaften, nur sie selbst gegen Krieg und Atom gar nicht, das, ach, ist unmöglich." Ach, wie richtig.