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Stephan Thome: „Pflaumenregen“ – Das Puzzle, das wir Identität nennen

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Von: Martin Oehlen

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Die Zahl 228 – Menschen in und aus Taiwan wissen, worauf sich das bezieht.
Die Zahl 228 – Menschen in und aus Taiwan wissen, worauf sich das bezieht. © AFP

Mit „Pflaumenregen“ taucht Stephan Thome tief in die Geschichte von Taiwan ein – und in das verwachsene Wurzelwerk einer Familie.

Stephan Thome kommt sofort zur Sache. In einem Vorwort zu seinem Roman „Pflaumenregen“ hält er fest: „Heute ist Taiwan eine ebenso lebendige wie gefährdete Demokratie, denn das Regime in Peking betrachtet die Insel – die nie zur Volksrepublik gehört hat – als Teil seines Staatsgebiets und strebt eine notfalls gewaltsame Vereinigung an.“ Und er fügt hinzu: „In Taiwan will das so gut wie niemand.“

Der Schriftsteller, der in der taiwanischen Hauptstadt Taipei lebt, legt einen historischen Roman mit aktuellem Zündstoff vor. Gerade in diesen Wochen scheinen die Spannungen im Pazifik zuzunehmen. Das drückt sich auch in Nachrichten aus, wonach die taiwanische Luftwaffe Notstarts auf Schnellstraßen trainiert oder die Bevölkerung in Erster Hilfe unterrichtet wird. Aus Sorge vor einem chinesischen Angriff.

Wer sind wir? Die Frage der Identität wird in Stephan Thomes Roman vielfach gewendet. Das bietet sich durchaus an bei einer Insel, deren Bevölkerung erst von Portugiesen, Niederländern und Spaniern heimgesucht wurde, dann von Chinesen, Ende des 20. Jahrhunderts von Japanern und schließlich im Jahr 1945 von Tschiang Kai-scheks Truppen.

Mit dem Ende der japanischen Besatzung und der Eingliederung in die Republik (nicht: Volksrepublik) China setzt der Roman ein. In jener Zeit, da es gefährlich ist, „im falschen Moment den Mund zu öffnen“, lernen wir die hellwache und nächstenliebende Schülerin Umeko kennen. Ihr folgen wir dann bis ins hohe Alter. Bis zu jenem Tag im Jahre 2017, an dem sie mit ihrem Sohn und zwei Enkelkindern an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, der mit manchem Schrecken verbunden ist. Ja, Umeko ist die Leitfigur, doch wird das Geschehen aus vielen Blickwinkeln und auf verschiedenen Zeitebenen beleuchtet.

Die BÜcher

Stephan Thome: Pflaumenregen. Roman. Suhrkamp. 526 S., 25 Euro.

Stephan Thome: Gebrauchsanweisung für Taiwan. Piper. 222 S., 15 Euro.

Stephan Thome ist Sinologe und hat parallel zum „Pflaumenregen“ den Band „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ bei Piper veröffentlicht. Darin hält er fest, warum er sowohl die Landeskunde als auch den Roman geschrieben hat. Zum einen wollte er „anderen von der faszinierenden Geschichte der schönen Insel“ erzählen, zum anderen diese „auch selbst besser verstehen“. Die Gebrauchsanweisung ist eine hervorragende Einführung, die immer wieder zurückkehrt zu Thomes eigener Annäherung an das Land. Der vorläufige Höhepunkt dieses Prozesses war die Hochzeit mit der Taiwanerin Jo-chiao im Jahre 2020 in Taipei. Der Piper-Band lohnt sich überdies als ergänzende Lektüre zum Roman. Auch tauchen darin einige Personen auf, bei denen der Autor als Romancier Anleihen genommen haben könnte.

In „Pflaumenregen“ setzt Thome seine Kenntnisse geschickt ein, ohne sie schulmeisterlich auszuwalzen. Dabei nimmt er hinreichend Rücksicht auf die europäischen Leserinnen und Leser, denen viele der fernöstlichen Ereignisse unbekannt sein mögen. Wer weiß schon, dass mit der Zahl „228“ auf das Massaker vom 28. Februar 1947 und die nachfolgenden „Säuberungen“ Bezug genommen wird, denen in Taiwan zwischen 10 000 und 30 000 Menschen zum Opfer fielen? Heute ist der 28. Februar ein nationaler Gedenktag.

Historisch konnotiert sind einige Familiengeheimnisse in diesem Roman. Und die Alten leisten nur wenig Beistand, um die politischen wie privaten Leerstellen in der Überlieferung zu füllen. Dazu gehören Fragen nach dem Gefangenenlager, in dem britische Soldaten interniert waren, nach Umekos verschwundenem Onkel, nach ihrem Bruder Keiji, der zehn Jahre inhaftiert war, oder nach der Beziehung zwischen der japanischen Lehrerin Honda und Umekos Vater. Ganz zu schweigen von Umekos freudloser Ehe. Einiges wird angedeutet, vieles bleibt ungeklärt.

Das erfährt auch Umekos Sohn Harry, der als Professor an einer Hochschule in den USA lehrt. Es ist im Kern die interkulturelle Frage, woher er kommt, die ihn anzutreiben scheint. So stellt er Nachforschungen an und beginnt mit einer Niederschrift. Das erfahren wir allerdings erst gegen Ende des breit angelegten Romans (der gleichwohl 200 Seiten früher zum Ende kommt als Stephan Thomes vorangegangenes China-Buch „Der Gott der Barbaren“).

Es ist Julie beziehungsweise Zhu-li, die einen Blick in das Manuskript ihres Onkels wirft und korrigierend feststellt, dass Umeko als Kind keine Zöpfe getragen hat. Sie spielt damit auf genau die flatternden Zöpfe an, mit denen Umeko auf Seite elf in den Roman stürmt. Ist also Harry der heimliche Erzähler von alledem? Dafür spricht auch Julies Hinweis, dass für ihren Geschmack zu viel von Baseball die Rede sei. Für unseren Geschmack auch. Doch Harry sieht das offensichtlich anders. Auch zitiert Thome in seiner „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ den offenbar geläufigen Spruch, „demzufolge das Land nicht verstehen kann, wer von Baseball nichts versteht“.

Der Autor, der schon mit drei seiner mittlerweile fünf Romane auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, malt ein Historiengemälde, das hierzulande kaum vertraute Fakten vermittelt. Allein das ist ein Gewinn. Zudem macht er deutlich, wie wild verwachsen die Wurzeln der Herkunft sein können. Die Frage, wo die Heimat ist, beschäftigt hier zumal die jüngere Generation, die längst international aufgestellt ist zwischen London und Hongkong, New York und Taipei. Da wird die Identität zum Puzzle und „Pflaumenregen“ zu einem exemplarischen Zeitroman.

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