Steffen Kopetzky: „Propaganda“ – John Glueck im Krieg

Steffen Kopetzkys großangelegter und detailreicher Roman „Propaganda“ erzählt eine rasante Jahrhundertgeschichte.
Im Jahre 1971 verschwindet der Held aus Steffen Kopetzkys neuem Roman „Propaganda“ aus der Welt. John Glueck aus Amerika, Enkel eines kölschen Großvaters, Sohn einer „deitschen“ Mutter aus Pennsylvania, der mit Hemingway, Salinger und Bukowski soff, mit JFK parlierte, die für die US-Army verlustreichste Schlacht im Zweiten Weltkrieg miterlebte, in Vietnam ein Opfer der chemischen US-Waffen wurde und schließlich die US-Regierung anklagt – dieser John Glueck steigt am Ende von „Propaganda“ am New Yorker Flughafen in ein Flugzeug und fliegt davon.
Sein Reiseziel bleibt ebenso ungenannt wie seine neue Identität, mit der ihn ein General des Pentagon ausgestattet hat. Ist es ein Zufall, dass im gleichen Jahr, da John Glueck verschwindet, der Autor Steffen Kopetzky auf die Welt gekommen ist?
Fragen nach Zufällen und tatsächlichen Zusammenhängen, nach Authentizität, Dichtung und Wahrheit stellt man sich immer bei der Lektüre von Kopetzkys Romanen. Seien es die unglaublichen Erlebnisse eines Schlafwagenschaffners in seinem grandiosen Erstlingserfolg „Grand Tour“ von 2002, die Abenteuer eines Meisterdiebs über und unter der Erde in „Der letzte Dieb“ (2008), die spannungsreiche und am Ende die Wirklichkeit auf den Kopf stellende Odyssee eines deutschen Geheimagenten während des Ersten Weltkrieges in dem Bestseller „Risiko“ (2015) oder die jetzt in „Propaganda“ erzählte, immer wieder welthistorische Ereignisse kreuzende Lebensgeschichte eines einfachen Amerikaners – wenn man ein Buch des 48-jährigen Schriftstellers aus Pfaffenhofen an der Ilm liest, fällt es schwer, die bis in Details hinein glänzend recherchierten Fakten von den Phantastereien eines begnadeten Erzählers zu unterscheiden. Irgendwann beim Lesen gibt man schließlich das Nachdenken darüber auf, was denn nun historisch verbürgt ist und was von Kopetzky ausgedacht und hinzugedichtet sein könnte. Man legt sich in den erzählerischen Fluss der Geschichten hinein, genießt die saubere Klarheit der Sprache und so manchen schön verspielten Strudel und lässt sich einfach treiben. Was will man mehr? Kopetzkys Bücher sind mehr als historische Romane, sie sind im besten Wortsinn Geschichts-Bücher.
So auch das neueste Buch, in dem es – wie der Titel schon sagt – um Propaganda geht und darum, wie die Mächtigen dieser Welt damit ihre Untertanen anführen, verführen, in die Irre führen und häufig genug auch ins Verderben. Zugegeben, das ist keine neue Erkenntnis, aber Kopetzky hält sich in seinem Buch auch nicht mit gedankenschweren Analysen und Diskussionen des Themas auf, sondern lässt mal mehr, mal weniger temporeich seinen Helden John Glueck durch vier Jahrzehnte politische, militärische und literarische Weltgeschichte taumeln und stolpern, aber nie stürzen.
Kopetzkys Ich-Erzähler ist dabei eine Art zweiter Forrest Gump, der erst mit Jerome D. Salinger und Charles Bukowski im Literaturkurs des US-Schriftstellers Whit Burnett sitzt und dann Ernest Hemingway und dessen wilden Kriegerhaufen in Frankreich beim Krieg gegen die Nazis begleitet. Zwischendurch trifft er die exilierten Stefan Heym und Thomas Mann und in Paris auch Pablo Picasso. Schließlich gibt er John F. Kennedy 1963 in einem Restaurant den Tipp, er solle bei seinem anstehenden Besuch in Westberlin doch den Satz „Ich bin ein Berliner“ sagen, um die Deutschen in der Frontstadt auf seine Seite zu ziehen.
Quasi nebenbei erfährt man noch, dass die Schuhfabrik Dassler aus Herzogenaurach, auch als Adidas bekannt, im letzten Kriegsjahr leichte Panzerabwehrraketen für den Endkampf der Hitlerjungen produzierte. Und dass der US-Konzern Monsanto im Vietnam-Krieg seine Pestizide testen durfte, die der deutsche Bayer-Konzern heute vertreibt.
Denn all die teils erhellenden, teils amüsanten und stets mit großer Fabulierfreude ausgeschmückten Anekdoten überdecken nicht den Ernst und das eigentliche Thema des Buches. „Propaganda“ ist vor allem ein Roman über den Krieg und über die brutale und sinnlose Opferung von Soldaten, weil eine zynische und verlogene Politik Menschen wie in einem militärischen Sandkastenspiel ohne Rücksicht auf Verluste hierhin und dorthin schiebt. Und so nimmt den größten Teil der 500 Seiten die Schilderung der vier Monate währenden, extrem verlustreichen „Allerseelenschlacht“ zwischen Wehrmacht und US-Army im Herbst und Winter 1944/45 im Hürtgenwald in der Nordeifel ein.
Kopetzky, ein Nachgeborener ohne jegliche Kriegserfahrung, erzählt das Grauen meisterhaft. Ihm gelingt eine ebenso plastische wie spannende und erschütternde Darstellung einer unerbittlichen, von strategischen Fehlentscheidungen der Generalität und unmenschlichen Qualen der Soldaten geprägten Kriegsschlacht.

Dabei bleibt der Autor ganz dicht bei seinem Helden John Glueck, der im Hürtgenwald als Sykewarrior unterwegs ist, ein Offizier der für psychologische Kriegsführung zuständigen Propaganda-Abteilung „Sykewar“ der US-Army. Aus dem Hürtgenwald soll er für ein in deutscher Sprache gedrucktes Propaganda-Blatt berichten, das die Alliierten über Deutschland abwerfen wollen. Seine schließlich fertig gestellte Reportage aber, in der es um einen deutschen Wehrmachtsarzt geht, der verletzte Soldaten beider Seiten versorgt, wird nicht gedruckt – ein menschliches Handeln des Kriegsgegners passt nicht in die alliierte Propaganda.
Gut 20 Jahre später ist Glueck in Vietnam dabei, wieder als Beobachter in einem Krieg. Und er muss wieder dieselben Erfahrungen machen von den Lügen, die dem Machterhalt politischer Systeme gelten. Nun aber, gezeichnet von einer durch chemische Kampfstoffe der US-Armee hervorgerufenen unheilbaren Hautkrankheit, zieht Glueck Konsequenzen. Es ist der letzte Kunstgriff Kopetzkys: Bei ihm ist es sein Held John Glueck (und nicht wie in Wahrheit der Pentagon-Beamte Daniel Ellsberg), der 1971 den Medien die Pentagon Papers zuspielt, eine geheime Analyse des Vietnam-Feldzugs, die nach ihrer Veröffentlichung in der „New York Times“ wesentlich zur Beendigung des Krieges beiträgt.
Dem deutschen Schriftsteller Steffen Kopetzky ist mit „Propaganda“ ein wahrhaft großer amerikanischer Roman gelungen. Ein kluges, lehrreiches, spannendes, unterhaltendes und bei aller Ernsthaftigkeit auch immer mal wieder witziges Buch, das den Leser lange nicht loslässt und zum Nachdenken zwingt über Verantwortung und Gewissen. Brillant.