Steffen Kopetzky „Monschau“: „Wir impfen, was das Zeug hält“

Steffen Kopetzkys „Monschau“ erinnert an eine Epidemie von 1962 – und beeindruckt vor allem als Mentalitätsgeschichte dieser Jahre.
Aerosole, Infizierte, Quarantäne – kommt einem das bekannt vor? In Steffen Kopetzkys Roman „Monschau“ sind diese Phänomene Gerüst und treibende Kraft. Doch geht es hier nicht um die Pandemie der Gegenwart, sondern um eine Epidemie im Jahre 1962. Ein Monteur der Rither-Werke aus dem Eifelort Lammerath bei Monschau bringt von einer Dienstreise nach Indien das Pocken-Virus nach Deutschland. Zunächst ist die Verwirrung groß. Doch dann reisen aus Düsseldorf der Dermatologe Günter Stüttgen und sein griechischer Mitarbeiter Nikos Spyridakis an und sorgen für Kontrolle und Distanz.
Der Roman greift einen realen Fall auf. Demnach brach die Pocken-Epidemie allerdings nicht in Lammerath, sondern in Lammersdorf aus, direkt an der belgischen Grenze gelegen und auch nicht weit von Monschau entfernt. Die Firma Junker, die als Edelstahlgießerei und Industrieofenbauer den Ort noch heute prägt, hatte damals einen Mitarbeiter auf den indischen Subkontinent geschickt. Der war zwar geimpft, aber dennoch in der Lage, das Virus aufzunehmen und zu übertragen. Er war Patient 1, bei dem die Infektion glimpflich verlief, seine Tochter Bärbel, die er nach der Heimkehr ansteckte, war Patientin 2 – und sie erkrankte schwer.
Aus der medizinischen und politischen Herausforderung jenes Jahres hat Steffen Kopetzky, geboren 1971 in Pfaffenhofen an der Ilm, eine Art „Faction“ gemacht. Im Roman selbst wird einmal davon gesprochen – eine Mischung aus Faktum und Fiktion.
Mittendrin in dieser Hochrisikophase, die zehn Wochen dauert, erblüht im Roman eine Liebesgeschichte zwischen dem griechischen Arzt und der jungen Erbin der Rither-Werke. Vera studiert in Paris, trägt „schwungvollen Bob“ und enge Keilhosen, liest Simone de Beauvoir und verkörpert ein neues Frauenbild. Sie bändelt zügig mit Nikos Spyridakis an. Der Jungmediziner aus Kreta geht derweil seiner Arbeit in einem Stahlkocheranzug nach. Das Monstrum, das normalerweise am Hochofen zum Einsatz kommt, soll den Angriff des Pockenvirus abblocken.
Das Buch:
Steffen Kopetzky: Monschau. Roman. Rowohlt Berlin, 2021. 356 Seiten, 22 Euro.
Vieles, was die frühen 60er Jahre ausmacht, findet Erwähnung. Kubakrise und Hamburger Sturmflut, „Firma Hesselbach“ und „Das Halstuch“, Jazz und Beuys und Opel Kadett, „Dürener Pockenkarneval“ und „Deutsches Wirtschaftswunder“. Es soll halt „alles“ vorkommen. Bei der Integration dieser Realien wäre wohl gelegentlich noch ein Feinschliff möglich gewesen. Auch bei der einen oder anderen Formulierung. So klingt das Stereotyp von der „Meute“ der Journalisten, das gleich zweimal vorkommt, als wäre der Erzähler ein pressefeindlicher Trumpist der frühen Jahre. Stilistisch wäre auch jene Passage optimierbar gewesen, in der der Fabrikdirektor aus dem Badezimmer kommt, „wo er sich erst einmal frischmachen hatte müssen“.
Was glückt und überzeugt: Das Zeitbild, das Steffen Kopetzky aus demokratischem Aufbruch und nationalsozialistischer Altlast entwirft. Die Täterseite verkörpern der Direktor der Firma und sein Chauffeur, die Opferseite spiegeln der junge Grieche, der von der deutschen Besatzung auf Kreta berichtet, und der Dermatologe Günter Stüttgen, den die Nazis wegen seines humanitären Engagements als Truppenarzt zum Tode verurteilt hatten. Das literarische Denkmal, das dem historisch nachweisbaren Günter Stüttgen (1919-2003) gesetzt wird, ist nichts als gerechtfertigt: Er ist der einzige Protagonist im Zentrum des Romans, der mit Klarnamen auftritt.
„Monschau“ entfaltet also seine größte Wirkung als Mentalitätsgeschichte. Zwar hat sich die Bundesrepublik aus den Trümmern des Nationalsozialismus befreit. Doch da sind noch jede Menge braune Schatten, die den Neuanfang verdunkeln. In der Innenwelt wie in der Außenwelt, im Denken wie in der Topografie – nicht zuletzt zeugen die weiterhin sichtbaren Panzersperren des Westwalls von der Schlacht im Hürtgenwald (die Steffen Kopetzky in seinem Roman „Propaganda“ von 2019 literarisiert hat).
Den süffig arrangierten Roman lesen wir in Zeiten der Pandemie alles andere als neutral. Neutralität gibt’s bei keiner Romanlektüre. Aber in diesem Fall verspüren wir die gegenwärtige Sorge besonders deutlich. Jedes Stichwort, das uns aus den Krisenstäben vertraut ist, blinkt so grell wie eine Diskokugel.
Das geflügelte Wort der Bundeskanzlerin, demzufolge die Lage ernst und also ernst zu nehmen sei, findet hier seine Entsprechung in der Feststellung: „Wir kriegen es in den Griff, aber doch nicht, indem wir die Gefahr kleinreden.“ Und mit gemischten Gefühlen liest man die Parole, die uns auch heute auf Länderebene zugerufen wird, ohne dass bislang entsprechende Taten folgten: „Wir impfen, was das Zeug hält.“