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"Solange kein Blut fließt, tut die Politik nichts"

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Von: Arno Widmann

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Das Restaurant wurde wegen Mafia-Verbindungen von der Polizei geschlossen.
Das Restaurant wurde wegen Mafia-Verbindungen von der Polizei geschlossen. © afp

Neapel ist eine Metapher, sagt der italienische Autor Roberto Saviano über seinen neuen Roman. Das Buch erzählt von Kindern, die eine Gang aufbauen und mordend durch Neapels ziehen.

Herr Saviano, lieben Sie Nicolas, die Hauptfigur Ihres Romans?
Lieben? Nein, ich glaube nicht. Aber ich mag ihn. Ich habe deshalb Schuldgefühle. Er ist schließlich ein Krimineller, hat unschuldige Menschen umgebracht. Aber er ist ein Kind. Er tut mir leid. Ich würde ihn so gerne retten, aber ich kann nicht. Natürlich hat niemand so viel Macht über seine Figuren wie ein Autor. Aber für mich sind die Tatsachen das Wichtigste, und für Leute wie Nicolas gibt es in der Realität kein Happy End. Sie wissen, dass sie allenfalls noch fünf, sechs Jahre vor sich haben. Dann werden sie tot sein. Wenn sie mich sehen, sagen sie „achtunddreißig“ und schütteln ihre Köpfe. Von Anfang an stand fest: kein Happy End für Nicolas. Nicht im Leben, also auch nicht im Roman.

Ihr Realismus steht Ihrer Liebe im Weg?
Ziel meiner Bücher ist immer, auch etwas zu erzählen über die Mechanismen der Wirklichkeit, zu denen ja auch die der Gefühle gehören. Das Ganze spielt sich im Dschungel ab. In dem gelten die Gesetze des Dschungels. Wenn du drin bist, kannst du dich dem nicht mehr entziehen. Keines dieser Kinder schießt, weil es Hunger hat. Sie machen es, um sich zu unterscheiden, um kein Niemand zu sein. In dem Europa, in dem sie aufwachsen, schließen sich die Wege, die zu Arbeit und Wertschätzung führen, immer mehr. Das gilt für Süditalien, Andalusien, für Griechenland, für die Peripherien der französischen Großstädte, für Gegenden in Deutschland und Schweden. Die Situation ist überall gleich. Noch freilich von sehr unterschiedlicher Intensität. In Neapel wird mit einer Kalaschnikow geschossen, in Paris mit einer Pistole, hier in Berlin eher selten. Aber die Situation ist überall gleich.

Und die Gefühle?
Warum haben sie diesen Hunger? Nach Anerkennung, Macht? Nach Liebe? Warum machen sie mit 15 schon Kinder? Weil sie wissen, dass sie nicht mehr lange zu leben haben. Sie sind wie die Dschihadisten. Sie suchen einen Sinn, eine Aufgabe, ein Ziel. In Europa schaut man dauernd in Richtung Islam, wenn es um Jugendliche geht, die zur Waffe greifen. Aber das ist falsch. Keiner meiner Jungs war in einer Koranschule. Keiner hat etwas mit Religion am Hut. Aber sie sind die wirkliche Gefahr, der wir in Europa uns stellen müssen. Nicht die „islamistische Bedrohung“. 

Wir schauen nicht auf unsere Jugend?
Wir schauen nicht dorthin, wo es wehtut und schon garnicht kümmern wir uns um sie. Solange kein Blut fließt, tut die Politik nichts. Wenn Blut fließt, ist es erst einmal zu spät. Wir haben viele Chancen verstreichen lassen.

Eine war, als 2006 „Gomorrha“ erschien. Sie haben ein Millionenpublikum erreicht, aber es hat sich nichts geändert. Kommen Sie sich nicht überflüssig vor?
Im Kern haben Sie leider recht: Es hat sich nichts geändert. Und doch: Ein paar Dinge haben sich geändert. Es wird jetzt sehr viel über das organisierte Verbrechen gesprochen. In einigen Ländern – Italien und Spanien – wurde gegen es vorgegangen. Aber man hat ihm nicht den Garaus gemacht. Die Mechanismen wurden nicht zerschlagen. Es sind jetzt andere Clans dran. Manchmal habe ich das Gefühl, verloren zu haben. Aber ich habe Vertrauen in den Leser. Mehr noch als in den Bürger oder gar den Politiker. Der Leser ist die letzte Hoffnung. 

„Der Clan der Kinder“ ist ein spannender Roman. Aber man kann ihn auch lesen als die soziologische Analyse des Aufstiegs einer neuen Camorra, einer Camorra 2.0.
Die Kinder leben nicht nur in den sozialen Netzwerken, sie haben auch die dort übliche Geschwindigkeit für alle ihre Aktivitäten übernommen. Als der jüngste von ihnen, ein Zehnjähriger, einen Boss abknallt, sagt er ihm, als der sich lustig über den kleinen Rotzlöffel macht: „Um ein Junge zu werden, hab ich zehn Jahre gebraucht, um dir ins Gesicht zu schießen, brauche ich eine Sekunde.“ Sie haben es eilig mit der Liebe und mit dem Tod. Die neuen Medien helfen ihnen bei der Beschleunigung. Aber sie bleiben nicht im virtuellen Raum. Sie springen in die Realität. Und übernehmen die Geschwindigkeit des Virtuellen. Töten darf nicht länger dauern als ein Liken. 

Und der Drogenhandel?
Das ist die einfachste Art, viel Geld zu verdienen. Darum geht es ihnen. Der Drogenhandel ist für sie wie ein immer Scheine ausspuckender Geldautomat. Die Legalisierung von Haschisch würde diesen Kanal mit einem Schlag verschließen. Sie würden andere finden. Aber immerhin.

Diese neue Camorra imitiert die von Ihnen in „Gomorrha“ beschriebene Gang.
Sie haben die Fernsehserie gesehen. Wenn du zeigen möchtest, was für einer du bist, wenn du wahrgenommen und erkannt werden möchtest, musst du es so tun, dass jeder dich wiedererkennt, also lassen ein paar aus der Nicolas-Gang sich die Frisur von Genny Savastano aus „Gomorrha“ machen. Das ist der Spiegel, in dem sie sich selbst erkennen und in dem sie erkannt werden wollen. Einer der Jungs aus „Der Clan der Kinder“ drischt mit einem Baseballschläger auf die Menschen ein, wie Al Capone es in „Die Unbestechlichen“ tut. Auch bei den Mafia-Filmen von Coppola und Scorsese hat die Mafia abgeguckt. 

Sind Sie ein Verarscher oder ein Verarschter?
Ich bin ein Verarschter.

In „Der Clan der Kinder“ schreibt nicht einer der Protagonisten des Romans, sondern der Autor höchstselbst, die Menschheit teile sich in nur zwei Gruppen: die Verarscher und die Verarschten. Die besonders raffinierten Verarscher würden sich darstellen als Verarschte, um in dieser Maske ihre Ziele zu erreichen.
So einer soll ich sein? Nein, nein, Ich bin ein Verarschter, der, als er „Gomorrha“ schrieb, sich die Maske eines Verarschers aufsetzte. 

Der Verarscher ist, so schreiben Sie, dadurch definiert, dass er immer einen Weg zum Erfolg findet. Selbst die widrigsten Lebensumstände können ihn nicht darin hindern. 
Es ist schwierig, sich selbst zu beurteilen. Vielleicht bin ich ja doch ein Verarscher. 

Erklärt der Welterfolg von „Gomorrha“ sich nicht auch daher, dass das Buch eben nicht als „Roman“ auftrat.
Ich glaube ja. Aber es spielte natürlich auch eine riesige Rolle, was dann geschah: die Morddrohungen, der Personenschutz. Das interessierte die Menschen.

Ist Curzio Malaparte Ihnen wichtig? 
Er ist einer meiner Meister. „Kaputt“ großartig. „Die Haut“ – so war Neapel nach dem Krieg. Aber auch sein erstes Buch „Der Aufstand der verdammten Heiligen“ liebte ich sehr. Es handelt von Jungen, die im Ersten Weltkrieg an die Front geworfen werden. Sie halten sich für Helden, sind aber nur verlaustes Kanonenfutter, das sich bei Prostituierten die Syphilis holt. „Die Haut“ wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt und in Neapel verboten. Malaparte, so hieß es, erzähle Lügengeschichten über die Stadt.

„Der Clan der Kinder“ endet mit dem Ruf der Mutter eines der getöteten Kinder nach einer Vendetta: „Jetzt ist die Zeit des Sturms. Und ich will, dass ihr der Sturm dieser Stadt seid.“ Wir sind in Berlin. Hier hielt Joseph Goebbels im Februar 1943 seine berühmte Sportpalastrede, in der er den totalen Krieg forderte. Sie endete mit den Worten: „Nun Volk steh’ auf und Sturm brich los!“
Daran habe ich nicht gedacht. Mir fiel der Sturm ein, weil, als ich jung war, man von einem aufkommenden „Sturm“ sprach, wenn sich ein Krieg zwischen Mafiosi abzeichnete. Damals nahm man in meinem Dorf in einer solchen Situation junge Eulen und nagelte sie lebend wie einen Gekreuzigten an die Hauswände. Diese armen Tiere schrien die ganze Nacht „Eä“, „Eä“. Ich hatte keine Ahnung, warum man das tat. Jetzt weiß ich es: Es geschah, um die Sturmgeister zu verschrecken. Das passierte jedes Mal, wenn ein Boss getötet wurde, weil man fürchtete, dass ein Rachefeldzug, „der Sturm“, beginnen würde. Aber dass Goebbels die Metapher des Sturm verwendete, um den totalen Krieg anzukündigen, das wusste ich nicht. 

Die Kapitel in Ihrem Buch haben Titel: „In der Scheiße“, „Raubüberfälle“, „Ich werde ein guter Mensch sein“ usw. Also nicht, was heute häufig ist: 1. Kapitel, 2. Kapitel etc.
Das muss sein. So erinnert sich der Leser viel besser. 

Es hilft auch dem Autor...
Er hat immer ein Thema und konzentriert sich darauf. Er schafft sich so kleine überschaubare Einheiten. Das war bei diesem Buch besonders nötig. Es musste in zwei Bände aufgeteilt werden. „Der Clan der Kinder“, der jetzt in Deutschland erschienen ist, ist nur der erste Band. In Italien kam vergangenes Jahr der zweite Band „Bacio feroce“ heraus. Da war es sehr wichtig, immer eine genaue Vorstellung zu haben, wo man gerade in der Geschichte steckte. Schon für den Autor. Dem Leser wird es auch helfen. 

Die Mafia hat immer auch Kinder eingesetzt...
Jaja. Aber das waren kleine Handlanger, die so weit unten in der Hierarchie standen, dass sie die großen Bosse nicht einmal kannten. In den vergangenen Jahren ist etwas völlig Neues passiert. 16-Jährige haben ihre eigene Gang. Sie sind Firmengründer und Chefs des organisierten Verbrechens. Die alte Ordnung bricht zusammen und plötzlich haben die ganz Jungen eine Chance. Sie trauern keiner Vergangenheit nach. Sie haben keine Angst vor der Zukunft. Sie haben auch keine Angst vor dem Tod. Das macht sie stark. 

Und was haben sie?
Eine fixe Idee. Entweder du holst es dir sofort oder du wirst es niemals haben.  Zukunft spielt keine Rolle. Die Idee, erst einmal mit der Schule fertig zu werden, dann eine Ausbildung zu machen, gibt es nicht. Das führt alles in die Irre,  finden die Jugendlichen. Jetzt einen Laden überfallen, niederknallen, was sich zwischen dich und das Geld stellt – darum geht es. Mit dem Geld sich schnell kaufen, was man will. Es geht ihnen um Cash. Sie wollen nichts aufbauen. Sie glauben nicht ans Aufbauen. Sie glauben nicht an eine Zukunft. Diese Elf-, Zwölfjährigen sind kleine, gierige Raubtiere, immer auf der Jagd nach Beute. 

Wir kennen das aus dem Rap.
Im Rap geht es immer – manchmal sehr poetisch – um den baldigen Tod. Den, den man anderen bereitet oder den, der einem widerfährt. Frauen werden gekauft, Konkurrenten beseitigt. Schlag auf Schlag. Immer Tempo. Rap – das ist ihre Musik. Manche dieser Jungs schreiben jetzt selbst Songs über ihr Leben. Ein zentrales Thema ist das Verlangen nach einem heroischen Tod. Nichts Neues? Wir kennen es von den Islamisten, von den Jungen, über die Malaparte schrieb. Damals ging es um Religion oder Vaterland. Denen aus den Kinderclans in Neapel geht es um Geld. Das ist, soweit ich weiß, das erste Mal in der Weltgeschichte, dass man ein Held ist, wenn man für Geld stirbt. Geld nicht für einen höheren Zweck oder für eine Umverteilung à la Robin Hood, sondern einfach nur, um es sich in die Tasche zu stecken.

Der Vater eines der Gangmitglieder stirbt bei einem Banküberfall...
In den Augen des Gangleaders Nicolas ist er ein Held, ein Märtyrer. Die Polizei hat ihn erschossen bei dem Versuch, sich etwas zu nehmen. Er ist ein Held, denn er hat nicht darauf gewartet, dass man ihm etwas gibt, sondern er hat es sich greifen wollen. Ein Raubüberfall war bisher ein Raubüberfall. Jetzt wird er ein heroischer Akt. Dabei zu sterben, macht einen zu einem verehrungswürdigen Märtyrer.

Das Buch erzählt den Aufbau dieser neuen Camorra. Nicolas findet den Ehrenkodex der alten Mafia lächerlich. Statt der Blutstreue soll auch in der Organisation das Geld regieren. Am Ende aber geht es doch wieder um die Blutstreue.
Nicolas’ Bruder wird niedergeschossen und die Mutter verlangt die Vendetta, Blutrache. Du suchst dir deinen Vater nicht aus, deine Mutter nicht und auch nicht deine Geschwister. Aber sie sind dein Schicksal. Das Blut hat seine eigenen Regeln. Auch wenn du dich ihnen hast entziehen wollen, sie holen dich ein. 

Eine sehr italienische Angelegenheit.
Nein. Diese Jungens gibt es überall auf der Welt. Sie hören überall dieselbe Musik. Sie wollen alles und sie wollen es sofort, weil sie nirgendwo auf der Welt an eine Zukunft glauben. Neapel ist eine Metapher. Es ist gut, wenn Sie das verstehen und wenn Sie anfangen, den Krieg, von dem ich schreibe, den ich beschreibe, in Ihrer eigenen Umgebung, ja in sich selbst zu entdecken. Dann haben wir eine Chance, aus ihm herauszukommen. Ich sage: Europa, mache Dir nichts vor: Du lebst nicht im Frieden. Die Armeen sind noch in den Kasernen. Aber es herrscht Krieg. Im angeblich so friedlichen Schweden sind in zwei Jahren 400 Menschen Opfer von Gewaltverbrechen geworden. 

Überall gibt es junge Leute, ja Kinder, die Überfälle machen, andere umbringen.
Es ist schwer, ihnen beizukommen. Die alte Mafia betrachtet das Töten von Kindern als Zeichen von Schwäche. Einer, der ein Kind niederknallt, statt ihm eine zu langen, ihm die Ohren langzuziehen, hat sich offensichtlich nicht im Griff, hat die Nerven verloren. Das wissen die Kleinen. Das macht sie unangreifbar. 

Seit 2006 stehen Sie unter Polizeischutz. Leben Sie inzwischen etwas freier?
Ich stehe immer noch unter Polizeischutz, aber ich lebe etwas freier, weil ich jetzt viel in den USA bin. Auch da werde ich geschützt. Ich werde in Zukunft öfter hier sein, denn ich möchte mich ein wenig auch mit Deutschland beschäftigen. Ich habe lernen müssen, dass vieles von dem, das ich in Italien erlebt und beschrieben habe, inzwischen in ganz Europa zu beobachten ist. Am 25. Februar wurden der slowakische Enthüllungsjournalist Ján Kuciak und seine Verlobte von der Mafia umgebracht.

Warum umbringen? Das macht doch erst richtig aufmerksam auf ihn und seine Recherchen.
Früher einmal hatten sie Angst vor den Medien. Heute ist alles so schnell geworden. Nehmen Sie die maltesische Journalistin Daphne Galizia, Im Oktober wurde sie durch eine Autobombe getötet. Wann haben Sie das letzte Mal etwas über sie gehört? Früher beschäftigten solche Geschichten die Medien wochenlang. Heute sind die Toten noch nicht einmal beerdigt, da sind sie schon vergessen. In Mexiko achteten die Gangs darauf, erst kurz vor 18 Uhr zuzuschlagen. Weil sie nur dann in die Abendnachrichten kamen. Wer zu früh kam, dem konnte ein anderer die Schau stehlen. Das ist die Zukunft, die wir verhindern müssen.

Interview: Arno Widmann

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