Sofia Andruchowytsch: „Die Geschichte von Romana“ – Kein Entrinnen aus der Erinnerung

Kleine Ukraine-Bibliothek (26): Sofia Andruchowytsch und ihr Roman „Die Geschichte von Romana“.
Der Geliebte kann die Geliebte nicht beschreiben. Ihre Figur nicht, nicht die Farbe ihrer Augen. Schmerzhaft ist das, sicherlich, aber auch verwirrend. Denn der Liebhaber ist Gesichtsspezialist. Er hat der Geliebten anstelle des, wie er empfand, perfekten Gesichts ein anderes verschafft. Das ist verstörend, aber sie wünschte es so. Was der Fachmann für plastische Chirurgie zu beschreiben versteht, sind „die Narben in ihrem Gesicht“. Das ist gefühllos, das ist aufschlussreich für eine Beziehung, die eine Affäre ist. Das ist ein Sinnbild. Ebenso wie die Narben. Narben sind erstarrte Wunden.
Es wird noch schmerzhafter, wo es doch von Anfang an schrecklich ist in Sofia Andruchowytschs „Die Geschichte von Romana“. Denn am Bett eines Operierten hat Romana ein im Krieg völlig zerstörtes Gesicht vor Augen. Überdies lässt der Roman erstarren, weil von einer Karteikarte der Name Butscha abgelesen wird, der Geburtsort eines Soldaten, einem Opfer des Krieges. Es ist ein Roman, der zudem erschaudern lässt, weil Sofia Andruchowytsch ihren „Amadoka“-Zyklus im Jahr 2020, vor den russischen Kriegsverbrechen in Butscha, in der Ukraine veröffentlichte. Mit dem Titel spielt die Autorin, 1982 geboren in Iwano-Frankiwsk, Tochter von Jurij Andruchowytsch, auf eine alte ukrainische Legende an. Es ist die Sage von einem See, mythisch untergangen. Anspielungsreich schon deshalb eine Badeszene zu Beginn des Romans an einem namenlos bleibenden See.
Es ist ein Roman, der die erstarrten Erinnerungen in Bewegung setzen möchte, indem er über die jüngsten Jahrzehnte der Ukraine erzählt. Andruchowytsch tut es in Form einer Trilogie, in Form eines Epos. Wer sich vergegenwärtigt, welche Bedeutung das Epos für die 1934 in Moskau verhängte Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ hatte, für den lässt sich Andruchowytschs Trilogie als Einspruch gegen ein Dogma lesen, das im Namen der „objektiven Totalität des Lebens“ totalitäre Ansprüche an den Roman stellte.
Stattdessen eine gebrochene Struktur, geschuldet einer komplizierten Geschichte, einer doppelt komplizierten, der der Ukraine ebenso wie des Romans, für den Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck sich nicht zum ersten Mal zusammengetan haben für eine Übersetzung, hier für einen erbarmungslosen Realismus: „Sein Gesicht hat wenig Ähnlichkeit mit dem Gesicht eines Menschen: die Gesichtszüge unstimmig und zusammenhanglos, die Nasenlöcher verdreht, die Konturen von Kiefer und Schädelknochen zeichnen sich unnatürlich unter der Haut ab, dunkle eingefallene Stellen bedecken Wangen und Stirn. Sie zittert, während sie ihn betrachtet. Das ist ihr Mann. Das ist ihr persönliches Monster.“
Ist es ihr Mann? Weil sie es sich so wünscht, weil sie es sich einbildet? Eines Tages stand der, von dem erzählt wird, in ihrem Büro, Bohdan. Stand der, an den sie sich erinnert, vor ihr, mit ein paar Flaschen Wein, ziemlich aufdringlich. Stand dieser Bohdan vor ihr mit nach Moder riechenden Koffern in dem Archiv Kiews, von dem es heißt, es sei ein Ort, „völlig isoliert und abgeschieden“, ohne „Bezug zur Stadt außerhalb der Mauern“. In den Koffern, wie Romana zunächst meint, Plunder. Doch die Dokumente sind aufgeladen mit Geschichten. Darunter solche von Menschen, die vor der Gewalt in die Wälder flohen. Es sind Passagen über Partisanen und Kollaborateure, verfolgt vom NKWD, dem sowjetischen Geheimdienst. Ausgreifend auf die Familiengeschichte von drei Generationen, verstrickt der Roman in die Gewaltgeschichte der Ukraine.
Es ist der Gesichtschirurg, bei dem sich Romana einschleicht, als Putzfrau zur Hand geht, weil sie in dem Arzt den Vater des entsetzlich Entstellten vermutet, den Sohn, der sich zur Front freiwillig meldete, Bohdan. Mehr als über den Sohn erfährt Romana über die todkranke Ehefrau, am meisten über die als grandiose Schöne beschriebene Zoya, die Geliebte des blassen „Professors“, der in einem Haus mit dicken Mauern residiert, einem aus der Zarenzeit, aufwendig gesichert, von Kameras überwacht. Ein jedes Detail in diesem Roman ist, nicht anders als die Dokumente im Koffer, aufgeladen mit Bedeutung.
Vielfach verschränkt die Geschichte, eine aus Überlagerungen und Spiegelungen. Wenn „der Professor“ eines Tages Romana durch einen Teil Kiews führt, sie dabei in besorgniserregende Innenhöfe entführt, wodurch die gewaltsame Ausquartierung der Bewohner und Bewohnerinnen während der 1970er Jahre wachgerufen wird, dann stellt sich darüber die Erinnerung an die eigene Jugend ein. An den Gewaltakt gegen die jüdische Bevölkerung in Galizien. „,Und so bin ich anscheinend aus dem Gedächtnis entstanden und nicht aus einer befruchteten Eizelle‘, endete der Professor überraschend.“ Wie aus dem Boden gewachsen die Opfer der Vergangenheit.
Zur Reihe
Eine kleine Ukraine-Bibliothek, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung. Davon ausgehend, dass sich Schauplätze, ob fern oder fremd, durch Bücher von jedem Ort der Welt aus aufsuchen lassen.
Sofia Andruchowytsch: Die Geschichte von Romana. Das Amadoka-Epos. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck. Residenz Verlag, Wien 2023. 304 S., 25 Euro.
Zuletzt ins Regal gestellt: Artem Tschechs „Nullpunkt“, Yevgenia Belorusets’ „Glückliche Fälle“ und „Anfang des Krieges“, die Nestorchronik, die Ausgabe „Widerstand“ der Zeitschrift „Osteuropa“, Erzählungen Mychailo Kozjubynskys und Wladimir Korolenkos sowie Bände zur deutschen Ostpolitik.
Als Nr. 27 wird Maria Matios’ Roman „Darina, die Süße“ vorgestellt.
Ähnlich wie dem „Professor“, der Romana zum Mitkommen nötigte, ergeht es ihm selbst mitten auf Kiews Sophienplatz. Drei Unbekannte verschleppen den Übergriffigen durch eine Abfolge von Höfen in einen Keller, wo ein Folterspezialist aus Sowjetzeiten den „Professor“ auffordert zum Vergessen: „Es ist nichts gewesen.“ Wie aus dem Boden gewachsen ein Untoter des Stalinismus.
Ein Täter beherrscht weiterhin die Familiengeschichte, greift zu auf Zoya, die mit einem anderen Gesicht die Anonymität suchte. Er bestimmt, wie über Zoyas Mutter gesprochen werden soll, über Uljana, die Ahnin mit den zerschnittenen Handgelenken, die den Freitod suchte. Es handelt sich bei dem Roman, dessen einzelne Passagen mikroskopisch präzise erzählt sind, um ein Vexierbild. Denn es geht dem Roman um das Vexierbild Ukraine.
Mit Romana und Bohdan fanden als Ehepaar zwei zusammen, die auf Erinnerung spezialisiert sind, ein Archäologe und eine Archivarin. Wollte man es pointieren, so beugte sich Bohdan über spätskytische Gräberfelder, während Romana spätstalinistischen Gräueln auf die Spur kam, vorgefunden in Koffern, darin vermeintlicher Krimskrams, den sie vor der „Entsorgung“ rettete, der besorgniserregenden Beseitigung von Vergangenheit.
Am Krankenbett nimmt sie den Invaliden in Beschlag. In seinem zerstörten Gesicht das Antlitz der Ukraine seit 2014. Von der Krankenhauspsychologin wird sie dabei überrascht, wie sehr körperlich sie sich dem erstarrten Körper nähert. Beiden Frauen fällt gegenseitig ihre körperbetonte Kleidung auf, bis hin zur Spitzenunterwäsche. Eine Prosa wie unter der Lupe. Im Raum steht eine Konkurrenz, am Krankenbett bleibt Eifersucht unausgesprochen. Mit ihren Lippen am Ohr des Mannes flüstert Romana dem Patienten Geschichten zu. Durch Geschichten nimmt sie von dem vollständig Versehrten Besitz. Sind es Vergewisserungen, sind es Einflüsterungen?
Die Archivarin Romana „wird zu seinem Gedächtnis“, wie sie selbst sagt. Überwältigend der Wunsch, ihn ins Leben zurückzuholen, unerträglich seine körperliche Nähe. Die Schlafstätte, die gemeinsame Matratze ein Prokrustesbett hin und her gewälzter Erinnerungen.
Narben bleiben, angefangen mit den Narben am Handgelenk der Großmutter. Uljana, während der Zeit der nationalsozialistischen Okkupation der Ukraine ist sie verliebt in einen jüdischen Jungen, Pinkus. Davon wird der zweite Teil der Amadoka-Trilogie handeln. Weil die Geschichte rückwärts erzählt wird, ist anzunehmen, dass es ein Epos ist, aus dem es kein Entkommen gibt.