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Wir sind eins und wir sind viele

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Von: Marie-Sophie Adeoso

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Akwaeke Emezi.
Akwaeke Emezi. © Elizabeth Wirija

Akwaeke Emezis autobiografischer Roman "Süßwasser" schildert auf verstörende Weise das Leben mit einem gespaltenen Ich.

Es gibt diese Grundregel der literarischen Interpretation, dass der Autor oder die Autorin nicht gleichzusetzen sind mit der Erzählstimme ihres Werks. Man könnte denken, dass dies für Akwaeke Emezis Debütroman „Süßwasser“ erst recht zu gelten hätte, denn es ist nicht eine, es sind viele Stimmen, die die Geschichte der Protagonistin Ada erzählen, eines nigerianischen Mädchens, das als Teenagerin in die USA zieht und nach einem traumatisierenden Übergriff am College ins Straucheln gerät.

Nun sagen aber Akwaeke Emezi, die sich bevorzugt in der dritten Person Plural anreden lassen, in Interviews über ihren Roman, dass sie darin ihre eigene Geschichte erzählt hätten. Die Geschichte eines Ichs, das auch ein Wir ist. Die Geschichte eines pluralen Individuums oder eines singulären Kollektivs, wie Emezi es ausdrücken. 

„Süßwasser“ - ein ungewöhnliches und herausforderndes Buch

Wie ungewöhnlich, wie herausfordernd anders dieses von der US-amerikanischen Kritik überschwänglich gelobte Buch ist, zeigt sich schon in der Schwierigkeit, darüber zu schreiben, ohne das Selbstbenennungsrecht des multiplen Autorinnen-Ichs zu verletzen – das dann im Klappentext der deutschen Übersetzung doch wieder in den Singular einer igbo-tamilischen Autorin zurückfällt. Die im Schreib-Workshop der Erfolgsautorin Chimamanda Adichie ihr Talent entfaltete, den Commonwealth Short Story Prize für Afrika gewann und einen Agenturvertrag mit der großen Wylie Agency an Land zog. 

Die Euphorie, die das Erscheinen von Emezis Debüt in der US-Kulturszene hervorrief, lässt sich etwa daran ablesen, dass die Fotografin Annie Leibovitz Emezi und ihre Schwester für die „Vogue“ ablichtete, oder dass der Rapper Jay-Z sie in eines seiner Musikvideos einbezog. Doch wer ist dieses gefeierte Ich, das sich als Wir versteht? Emezis Identität, das haben sie in einem schonungslos offenen Essay im Online-Magazin „The Cut“ beschrieben, ist nicht nur die einer Transgender-Person, die sich die Gebärmutter entfernen lässt, um ihren weiblichen Körper nicht dem eines Mannes, sondern ihrer nonbinären Geschlechtsidentität anzugleichen. Aus Emezi sprechen laut Selbstauskunft auch Ogbanje. Geistwesen der westafrikanischen Igbo-Mythologie also, die die Romanprotagonistin Ada beschreibt als „Schwellenwesen – Geist und Mensch, gleichzeitig beides und keines von beidem“. Sie bewohnen den menschlichen Körper nur vorübergehend, kehren wieder in immer anderer Form. 

Für Emezis Roman bedeutet das: Es ist manchmal, aber nur selten das Mädchen Ada, das seine eigene Geschichte erzählt. Sondern es ist ein „Wir“, das spricht. Ein Chor an Stimmen, der ihren Körper bewohnt und über die „die Ada“, ein unruhiges, von Albträumen geplagtes Kind, sagt: „Es war nicht ihr Fehler – sie wusste nicht, dass wir in ihr lebten, noch nicht“ und später: „Dieser Körper war unserer, nicht ihrer.“ Ada wird bereits als Zwölfjährige anfangen, sich die Arme blutig zu ritzen, und so dem Wir im Kopf Opfer bringen, „die notwendig waren, um uns zu beruhigen, um uns davon abzuhalten, sie verrückt zu machen“.

Dann wieder ist es ein Ich, von denen es viele gibt „im Marmorzimmer“ von Adas Kopf. Über weite Strecken des Buches spricht die derbe, dominante Asughara, die in Adas Körper hineingeboren wird, als diese von einem Mitstudenten vergewaltigt wird. Dieses „Biestselbst“ wird Ada in toxische, gewalttätige Beziehungen und Affären mit problematischen Männern stürzen und jene, die ihr wohlwollen, ihrerseits verletzen. Wird „die Ada“ im Kopf abspalten von ihrem Körper: „Ich war mächtig, und ich war wütend, er konnte mich nicht berühren, egal, wie hart er sich in ihren Körper drängte, und er konnte sie definitiv nie wieder berühren.“ 

Asughara wird dafür sorgen, dass kaum noch ein Mensch die wahre Ada zu sehen bekommt; wird ihr Gesicht benutzen, um verschiedene Arten des Lächelns zu üben – „meine Finger blieben in ihren Mundwinkeln eingehakt“ sagt sie über einen Moment, als Ada Trauer und Schock über den Tod eines nahen Menschen einfach weglächelt. 

Emezis Buch ist ein Ereignis, betörend und verstörend zugleich

Es braucht eine Weile, sich auf diese Erzählstimmenvielfalt und ihren so poetischen wie zuweilen auch rätselhaften Ton einzulassen. Sich zurechtzufinden im Wirrwarr der Blicke, die durch Adas Augen hindurch auf die Welt der Menschen schauen. Dann aber packt und erschüttert es einen. Emezis Buch ist ein Ereignis, betörend und verstörend zugleich. Eine so verwirrende wie erhellende Art, von queerer und neurodiverser Identität zu erzählen, von Trauma und Depression, vom Wir im Ich. Anders als alles, was man bisher dazu gelesen hat. Und trotz des harten Stoffes, den es verhandelt, streckenweise auch von intelligentem Witz. Etwa wenn Asughara sich in Adas Kopf über „den Schwarm ihrer Kindheit“ lustig macht, „Yshwa“, wie Christus in der Ogbanje-Welt heißt. Auf faszinierende Weise verdeutlicht sie so die moralischen Konflikte des christlich sozialisierten Mädchens, das sich durch die erlittene Vergewaltigung beschmutzt und schuldig fühlt.

Es ist ein schmaler Grat, auf dem die vielen Ichs balancieren. Emezi wie auch ihre Protagonistin Ada taumelten und fielen fast, Essay wie Roman erzählen von einem gescheiterten Suizidversuch. Es ist daher naheliegend, „Süßwasser“ als Beschreibung psychischer Krankheit zu lesen. Ada, die nur an wenigen Stellen des Buches selbst spricht, wird zwischendrin ihre Symptome recherchieren und auf Diagnosen wie jene einer dissoziativen Identitätsstörung stoßen, wird sich therapeutische Hilfe suchen. Als „Verrat“ kommentiert Asughara dieses Ansinnen. „Wir sind der Puffer zwischen dir und dem Wahnsinn, wir sind nicht der Wahnsinn.“ Als westliche Lesart kommentieren Emezi es in ihrem biografischen Essay.

Zwar gesteht auch das Wir in Adas Kopf: „Das alles ist letztendlich eine Litanei des Wahnsinns.“ Sagt über Ada aber auch: „Sie war immer bei Verstand. Es ist nur so, dass sie mit uns kontaminiert war, mit einem göttlichen Parasiten, der viele Köpfe hatte, der brüllte im Marmorzimmer ihres Kopfes.“ Akwaeke Emezi wie ihre Ada haben lernen müssen, mit dem Wir im Kopf zu leben, statt dagegen anzukämpfen. 

Man muss, man wird diese Geschichte nicht in allen ihren Verästelungen verstehen und nachempfinden können. Aber man kann das Versöhnende nachfühlen, das darin liegt, dass Ada gen Ende des Buches mit ihrer eigenen Stimme sagt: „Ich bin meine anderen; wir sind eins und wir sind viele.“

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