„Immobilien holen das Schlechteste aus Menschen heraus“

Gespräch mit dem Schriftsteller Jan Brandt über die Wohnungsnot und Immobilienspekulation (nicht nur) in Berlin.
Herr Brandt, Sie sind das erste Mal in den 90er Jahren nach Berlin gekommen und haben hier 2015/16 erneut eine Heimstatt gesucht. Worin unterscheiden sich Ihre beiden Ankünfte in der Stadt?
In den 90er Jahren war Berlin ein Eldorado. Man hatte das Gefühl, in einer offenen Stadt zu leben. Es gab günstige Mieten und jede Menge Freiräume. Es gab viel zu entdecken, gerade für Künstler. Berlin hieß einen auf durchaus eigenwillige Art willkommen. In der Zwischenzeit hat sich das Lebensgefühl sehr verengt. Die Frage lautet nicht mehr: Wie will ich leben? Sondern: Was kann ich mir noch leisten?
Haben Sie es kommen sehen, dass es einmal so schwer sein würde, in Berlin einen adäquaten Wohn- und Lebensraum zu finden?
Ja, ich habe das in Kreuzberg, wo ich etwa zehn Jahre gelebt habe, hautnah miterlebt, diese Verschärfung der Verhältnisse. Ein markantes Beispiel, durch das eine nachbarschaftliche Gegenbewegung ins Leben gerufen wurde, war die Verdrängung des Gemüseladens Bizim Bakkal in der Wrangelstraße. Viel Aufsehen hat auch die erzwungene Schließung des Eiszeit-Kinos erregt. Erst wurde es jahrelang renoviert, kurz nach Wiedereröffnung hat der neue Eigentümer, ein Anwalt aus München, den versprochenen Baukostenzuschuss verweigert. Die Kino-Betreiber mussten Insolvenz anmelden. Die Räume stehen seit einem Jahr leer. Unmittelbar in der Nähe der Markthalle IX hat eine Immobilienfondsgesellschaft mit Sitz in der Steueroase Jersey zwei Häuser gekauft und wollte die Mieter mit Modernisierungen zum Auszug drängen. Das war alles sehr präsent, es spielte sich unmittelbar vor meiner Haustür ab.

Ist diese Entwicklung das große Zukunftsthema der Stadt?
Auf jeden Fall. In den 90er Jahren war die Aufbruchsstimmung überall zu greifen. Das lag zum einen am Wegfall der Mauer, aber auch am Umzug der Bundesregierung nach Berlin. Es ging nach vorn, Firmen gründeten Niederlassungen, und es siedelten sich viele kleine Start-Ups an. Es herrschte eine euphorische Grundstimmung, an der mehr oder weniger alle teilhaben konnten. Heute habe ich den Eindruck, dass sich Zögerlichkeit und Stagnation breitgemacht haben. Niemand zieht mehr ohne Not um, weil man befürchtet, sich zu verschlechtern. Es herrscht ein Klima der Angst.
Ist Wohnen deshalb auch zu einem wichtigen Thema für die Literatur geworden?
Die Liebe ist sicher auch ein wichtiges Thema, über das zu schreiben sich lohnt. Aber ich interessiere mich mehr für gesellschaftspolitische Entwicklungen, und deshalb habe ich aufgeschrieben, was mir zugestoßen ist. Wenn der Stadtraum nicht mehr denen zur Verfügung steht, die ihn eigentlich gestalten, dann geht das alle an.
Sie sprechen davon, dass Ihnen etwas zugestoßen sei. Verraten Sie uns, was das war?
Es fing damit an, dass der Sohn meines Vermieters eine Eigenbedarfskündigung androhte. Zu der kam es aber zunächst gar nicht. Stattdessen erhielt ich eine Mieterhöhung, auf die ich jedoch nicht einging, weil sie jeder Grundlage entbehrte. Erst danach wurde mir schriftlich eine Eigenbedarfskündigung zugestellt. Es gab sehr viele Ungereimtheiten und absurde Wendungen, aber am Ende lief ich Gefahr, die Wohnung zu verlieren.
Und dann begann die Suche?
Genau. Und das war noch sehr viel demütigender. Das lag auch daran, dass ich zunächst davon ausgegangen bin, dass ich schon was finden werde. Aber je länger es dauerte, desto frustrierender wurden die Bewerbungen, Besichtigungstermine und Ablehnungen. Zusagen wurden widerrufen, Erklärungen blieben aus. Irgendwann dämmerte mir, dass ich nichts wert bin.
Es wird Ihnen, um es pathetisch zu sagen, nicht nur eine Wohnung gekündigt, sondern auch das Heimatgefühl?
Ja. Wie bei einer enttäuschten Liebe fühlte ich mich zurückgewiesen: Die Stadt will dich nicht mehr, also sieh zu, wo Du bleibst.
Was Ihren Fall besonders pikant macht, ist ja auch die Tatsache, dass Ihr Vermieter keineswegs Repräsentant einer kalten, anonymen Wohnungsbaugesellschaft war.
Ja, das war kein böser Konzern, sondern ein einzelner Vermieter. Im Nachdenken über meine eigene Wohnbiografie hat sich mir der Gedanke erhärtet, dass Immobilien das Schlechteste aus dem Menschen herausholen. Das habe ich auch an mir selbst erlebt. Einmal habe ich eine Schrottimmobilie weitergegeben und meine Nachmieter eben nicht auf die Mängel hingewiesen. Ich wollte die Wohnung ja schließlich loswerden.
Was ist das? Ein Kampf: Jeder gegen jeden?
Es gibt natürlich auch sehr positive Entwicklungen: Mieter schließen sich zusammen und geben ihre Erfahrungen stadtteilübergreifend an andere weiter. Man kann hier in Berlin eine funktionierende und äußerst wirksame Solidarität erleben. Nach dem Aus des Gemüseladens Bizim Bakkal vor drei Jahren hat sich die Initiative Bizim Kiez gegründet, die seitdem sehr erfolgreich der Zerschlagung der Nachbarschaft entgegentritt.

Sie beschreiben, wie Sie als junger Schriftsteller nach Berlin kamen und auf günstigen Wohnraum angewiesen waren, weil Sie Ihren Traum verwirklichen wollten, als Schriftsteller zu arbeiten. Ein Boheme-Dasein. Die Probleme etwa von migrantischen Familien, die es auf dem Wohnungsmarkt vermutlich viel schwerer haben, kommen allenfalls am Rand vor. Haben Sie sich bewusst auf Ihre sehr persönliche Geschichte beschränkt?
Ich habe natürlich überlegt, ob ich die Geschichten meiner Nachbarn mit aufschreiben soll, zum Beispiel die einer alleinerziehenden Mutter, die ebenfalls eine Eigenbedarfskündigung erhielt. Ich habe es aber wieder verworfen. Jede dieser Geschichten hätte ein eigenes Buch gerechtfertigt.
Weshalb haben sie trotz allem daran festgehalten, in Berlin bleiben zu wollen?
Ich bin ja nicht nur wegen der günstigen Mieten gekommen. Ich war davon überzeugt, als Schriftsteller hier an der richtigen Adresse zu sein. Die Szene und die Milieus, die sich in der Stadt herauszuschälen begannen, hatten etwas Einzigartiges. Das findet man in dieser Konzentration in keiner anderen deutschen Stadt. Das Landleben war keine Alternative für mich. Als Schriftsteller bleibt man dort immer ein Exot: eine Merkwürdigkeit, wie so verschrobene Künstler mit komischen Figuren im Vorgarten. Die Stadt ist nun einmal der Ort, an dem Zukunft gestaltet wird. Demokratische Teilhabe tritt hier deutlicher hervor als in einem Dorf, wo die Konservativen, die Beharrungskräfte viel stärker sind.
Was ist denn der schlimmste Fehler, den man in Berlin bei der Wohnungssuche machen kann?
Schriftsteller zu sein, Freiberufler. Das war mir zunächst gar nicht klar. Aber irgendwann bemerkte ich, dass ich neben Doppelverdienern in der Schlange stehe. Bei Vermietern steht die Höhe des monatlichen Einkommens im Vordergrund, ein fester Job, geregelte Verhältnisse.
Hat das Wohnen seine Selbstverständlichkeit verloren? Ist es zu einer Art Glücksspiel geworden?
Ich war lange überzeugt, dass man mit seinem Vermieter über Konflikte und Veränderungen reden kann. Aber sobald sich Anwälte einschalten, ändert sich das. Anfangs habe ich den Sohn meines Vermieters zum Gespräch in meine Wohnung eingeladen. Später fanden sich dann Begebenheiten dieses Besuches in den Schriftsätzen seiner Anwälte wieder. Die Abstellkammer, die ich selbst eingebaut hatte, wurde da zu einem „wohnwertsteigernden Merkmal“. Die Wirklichkeit wird zu einer juristischen Gegenerzählung.
Das hört sich alles ernst und dramatisch an. Aber Ihr Buch ist auch sehr komisch und tendiert ins Groteske.
In den konkreten Situationen habe ich eher selten gelacht. Aber ich war mir durchaus im Klaren drüber, dass die vielen Wohnungsbesichtigungen etwas sehr Komisches an sich haben, insbesondere die Einzelgespräche haben Kammerspielcharakter. Da prallen Welten aufeinander. Manchmal habe ich mich wie Schotty im „Tatortreiniger“ gefühlt: Der eine wischt das Blut weg, und die andere redet über Kunst.
Stellen Bewerbungsgespräche nicht auch eine sprachliche Herausforderung dar?
Ich bin bald dazu übergegangen, ausschließlich affirmativ zu sprechen, das heißt, ich habe verstärkt, was die Eigentümer zuvor bereits gesagt haben. „Wie ruhig es hier ist!“ „Der Ausblick ist ja phänomenal!“ Nichts ist schlimmer als der Verdacht, ein Querulant zu sein.
Sie sind aus Ostfriesland nach Berlin gekommen. Hat man bei Ihnen zu Hause überhaupt verstehen können, was Ihnen widerfahren ist?
Nein, überhaupt nicht. Ich hatte darüber viele Gespräche mit alten Schulfreunden. Da sie sich in ganz anderen Lebensverhältnissen befinden, haben sie so gut wie kein Bewusstsein für die existenziellen Kämpfe einer Großstadt. In Berlin sind etwa 85 Prozent der Bevölkerung Mieter, in Ostfriesland verhält es sich genau umgekehrt. Mieter gelten da als notwendiges Übel, arme Leute, die sich nichts Eigenes leisten können. Wenn man dann wie ich zurückkehrt, haftet einem der Makel an, keine eigene Wohnung zu besitzen. Da sagen sich manche dann: Mit dem stimmt doch was nicht.
Wie ist das Buch entstanden? War es Ihnen von Beginn an klar, dass das zwei Geschichten sind, die zusammengehören?
Nein. Zunächst waren die Wohnungsbesichtigungen eben nur Wohnungsbesichtigungen, am Anfang habe ich noch nicht mitgeschrieben. Erst als es sich in die Länge zog, ahnte ich, dass daraus mehr werden könnte. Zum zweiten Teil des Buches, „Ein Haus auf dem Land“, fiel mir bald auf, dass die Gründe, die zum Abriss des 150 Jahre alten Hauses meines Urgroßvaters in Ostfriesland führten, sich aus ähnlichen Motiven speisten wie meine Situation in der Stadt. Das gab es einen Bauunternehmer, der das Haus gekauft hat, um auf dem Grundstück ein Mehrfamilienhaus zu errichten. Mir fiel auf, dass auch der Druck auf das Dorf zunimmt, weil Bauland fehlt. Es gibt dort keine Landflucht. Die Nachfrage nach neuen Wohnungen ist enorm.
In der einen Hälfte des Buches verlieren Sie ein Haus auf dem Land, in der anderen gewinnen Sie schließlich eine Wohnung in Berlin. Was ist für Sie das Bedeutendere?
Der Verlust des Hauses wiegt natürlich schwerer, weil er nicht zu ersetzen ist. Eine Wohnung lässt sich immer wieder finden, auch wenn es in Berlin mit jedem Jahr schwerer wird.
Das Haus in Ostfriesland ist verschwunden. Wollten Sie es im Buch wiedererrichten?
Das Buch war eine Gelegenheit, das Haus für mich ganz persönlich in einem Erinnerungsraum festzuhalten und auf diese Weise doch noch vor dem Abriss zu bewahren. Aber ich wollte auch nachvollziehbar machen, was es heißt, wenn jemand ein Stück seiner Heimat und seiner Familiengeschichte verliert.
Was haben Ihre Eltern zu Ihren Aktivitäten gesagt, etwas zu retten, das sie aus ihren Überlegungen ja bereits vor Jahrzehnten aus ihren Überlegungen gestrichen hatten?
Meine Eltern und meine Verwandten haben sich in der Situation tatsächlich sehr nüchtern verhalten. Sie haben mehr die Kosten im Blick gehabt als das Ideelle. Durch meine Distanz zu meinem Heimatort habe ich natürlich auch einen ganz anderen Blick auf die architektonischen und landschaftlichen Gegebenheiten gewonnen. Meine Eltern hatten Angst, dass ich mich finanziell ruiniere. Wahr ist aber auch, dass die Geschichte des Hauses uns bis heute bewegt. Obwohl da inzwischen ein neues Haus steht, stellt der Ort ein Loch dar, um das wir noch immer kreisen.
Rennt Ihr Erzähler im Buch nicht einem vergeblichen Traum nach?
Es ist schon richtig, ich habe mich irgendwann sehr in diese Immobiliengeschichte hineingesteigert. Ich glaube aber, dass es auch gar nicht anders geht. Jedes große Projekt, ob ein Roman oder ein Hausbau, ist der pure Wahnsinn. Der Kauf eines Hauses bedeutet Stress und Erregung. In meinem Fall war es zusätzlich durch die eigene Familiengeschichte belastet. Mein Urgroßvater trug den gleichen Namen wie ich: Jan Brandt. Das habe ich auch als Auftrag aus der Vergangenheit verstanden, als gehe es für mich auch um eine Art Selbstrettung. Wenn ich das heute lese, sehe ich natürlich, dass da ein geschichtsversessener Paranoiker am Werk ist.
Glauben Sie, dass die politische Frage nach dem Wohnraum das Land verändern wird?
Es ist auf jeden Fall ein Thema, das alle gesellschaftlichen Schichten durchdringt. Es trifft ja nicht nur Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Selbst Normalverdiener haben es immer schwerer, in den Städten Wohnraum zu finden. Es wird immer mehr zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Können Sie das konkreter fassen?
Da läuft grundsätzlich etwas falsch. Berlin war immer eine Stadt der kleinen und mittleren Eigentümer. Das hat sich durch die Niedrigzinspolitik der letzten zehn Jahre total verändert und Wohnungen zu internationalen Anlage- und Spekulationsobjekten gemacht.
Aber sind Sie als junger, beweglicher Zugezogener nicht auch Teil dieser Gentrifizierung, die Sie beklagen?
Was ich im Buch in dieser Hinsicht beschreibe, behandelt eine ganz andere Phase der Gentrifizierung. Berlin war Mitte der 90er eine schrumpfende Stadt. Häuser standen leer, die Wohnungen waren heruntergekommen. Die jungen Leute, die in den Prenzlauer Berg oder nach Friedrichshain und Mitte kamen, haben die Stadtteile aufgewertet und dadurch sicher auch teurer gemacht. Aber das hat nicht allzu viel an den Eigentumsverhältnissen geändert. Das erhielt durch die Finanzkrise 2008 eine ganz neue Dynamik. Den neuen Investoren geht es nicht um Stadtentwicklung, sondern nur um Rendite.
Gibt es das auch in Ostfriesland?
Dort zeigt es sich auf andere Weise. Das Dorf, aus dem ich stamme, hat sich sehr verändert. Die Landwirtschaft wird nur noch von sehr wenigen betrieben, und als eigenständiger sozialer Raum ist das Dorf kaum mehr zu erkennen. Es sieht eher aus wie eine Vorstadt oder eine Pendler- und Schlafstätte. Brachland wird liegengelassen, Immobilienspekulation ist hier kein Fremdwort. Die Entwicklungen, die wir in der Stadt in verschärfter Form wahrnehmen, zeigen sich verzögert und in kleinerem Maßstab auch auf dem Land.
Interview: Jochen Arntz und Harry Nutt
Autor und Werk
Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren und wuchs in dem ostfriesischen Dorf Irhove auf. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte in Köln, Berlin und London absolvierte er außerdem eine Ausbildung an der Journalistenschule in München.
Der erste Roman „Gegen die Welt“, der im Jahr 2011 bei DuMont erschien, beschreibt den Niedergang eines
Dorfes in Ostfriesland in der Nachwendezeit. Der Roman befand sich auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2011.
In seinem aktuellen autofiktionalen Werk „Eine Wohnung in der Stadt/Ein Haus auf dem Land“ greift Brandt das Thema Immobilienspekulation auf.