Sergej Lebedew: „Das perfekte Gift“ – Ein Fläschchen Debütant

Wie Angst Menschen in Schach hält: „Das perfekte Gift“ von Sergej Lebedew, ein beunruhigender Spionageroman mit sowjetischen Wurzeln
Wenn ein russischer Autor heute einen Roman mit dem Titel „Das perfekte Gift“ veröffentlicht, liegen Gedanken an den Giftanschlag auf Alexej Nawalny so nahe, dass es fast unheimlich ist. Sergej Lebedews Buch, von Franziska Zwerg übersetzt, erschien im Original aber schon 2019, ein Jahr vor dem Anschlag. Allerdings gab es damals bereits eine Parallele, die Vergiftung des früheren Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter. Skripal lebte seit mehreren Jahren im englischen Salisbury, seine Verfolger erwischten ihn dort.
Lebedew erzählt weder Skripals noch Nawalnys Geschichte, sein Roman aber handelt von der Macht russischer Geheimdienstler, die weit über die Grenzen des Landes reicht. Er nutzt die Mittel des Spionagethrillers, doch erzählt er weitaus ausgefeilter über Geschichte, Kultur und Politik. Die Linien zwischen seinen Figuren ergeben ein feines literarisches Gespinst unterhalb der machtvollen Netze von KGB und GRU und auch der DDR-Staatssicherheit.
Ein Beispiel dafür ist, wie ein Mann namens Professor Kalitin nach Clara Immerwahr gefragt wird, der ersten Deutschen, die einen Doktorgrad in Chemie erwarb. Kalitin lebt zu der Zeit zurückgezogen in den Bergen, hat eine andere Identität angenommen. Dass auch der Pfarrer, der ihn anspricht, seinen Lebenslauf erfunden hat, dämmert ihm in dem Gespräch. Und dass der mehr weiß, als ihm lieb ist.
Er braucht einen weiteren Denkanstoß: Clara Immerwahr war die erste Ehefrau des späteren Chemienobelpreisträgers Fritz Haber, der durch seine Forschung den Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg mit ermöglichte. „Als sie erfuhr, dass er an die Front fuhr, um den Gasangriff zu leiten, schoss sie sich ins Herz. Aus seiner Pistole“, sagt der Pfarrer zu dem Russen. Kalitins Frau hieß Vera, das bedeutet im Russischen auch Vertrauen und Glaube. Als er Russland verließ, nahm er nichts mit außer ein Fläschchen seines im Chemielabor entwickelten perfekten Produkts. Debütant hat er es genannt. In der Bezeichnung lässt Lebedew das gegen Skripal und Nawalny angewandte Nervengift klingen: Nowitschok heißt übersetzt Neuling.
Das Buch
Sergej Lebedew: Das perfekte Gift. Roman. A. d. Russ. v. Franziska Zwerg. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2021. 256 Seiten, 22 Euro.
Kalitin erscheint in den Rückblicken als überzeugter Tschekist, der Sowjetunion über ihr Ende hinaus treu ergeben („Sein Land war früher eines gewesen, das aller Bemühungen wert gewesen war, schon allein deshalb, weil es ebenbürtige Feinde gehabt hatte“). Nach deren Zusammenbruch hatte er kurz eine Aufgabe im Tschetschenien-Krieg gesucht. Der Autor lässt uns diese Haltung und Rolle Kalitins vergessen, wenn seine jüngere Konkurrenz sich auf den Weg in den Westen macht, den Mann und sein Geheimnis aufzuspüren. Mit einem Fläschchen im Gepäck.
Ortsnamen oder Jahreszahlen fallen kaum in diesem Roman, doch die regionalen und historischen Koordinaten sind sichtbar. „Er wurde geboren, nachdem Millionen in Gaskammern gestorben waren und zwei von den Alliierten aufgegriffene deutsche Chemiker vom Insel-Gruppenfoto zuerst auf die Anklagebank und dann auf ein Galgengerüst kamen“, heißt es über Kalitin. „Die Wissenschaft, ihr Weg zur Macht, schien nun gebrandmarkt und öffentlich des Bösen überführt.“ Das Haus, in dem er sich niederlässt, war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Punkt auf der Rattenlinie, dem Fluchtweg von Nazis und Kriegsverbrechern.
Als Kalitins Verfolger namens Scherschnjow nach Deutschland kommt, gibt er in einer Polizeikontrolle vor, ein ehemaliges Konzentrationslager in der Nähe besuchen zu wollen. Um die Legende zu wahren, muss er hingehen. Die Ähnlichkeit der Bilder mit denen aus sowjetischen Gulags erschreckt ihn. Eine Schülergruppe wird durch die Gedenkstätte geführt. „Die Kinder, die ihre Fotos auf Instagram posteten, trieben diese Absurdität auf die Spitze. Sie verhielten sich so, als beträfe sie die Vergangenheit überhaupt nicht: weder die ferne Vergangenheit dieses Ortes noch die nahe Vergangenheit von Scherschnjow.“ Seine eigene Geschichte ist nicht nur mit dem Geheimdienst bezeichnet. Sein Vater bekam einen Orden, weil er half, den Prager Frühling niederzuwalzen.
Sergej Lebedew wechselt in kurzen Kapiteln zwischen mehreren Personen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Manchmal muss man zurückblättern, in welcher Funktion man einen Namen bereits kennengelernt hat, doch der Forscher und sein Debütant bleiben auf dem Hauptstrang der Roman-Erzählung als Orientierung. Erfundene Biografien, unsichtbare Eingänge, vernichtete Akten, sich gegenseitig observierende Geheimdienstler – was auch immer Sergej Lebedew aus dem Spionageroman entnommen und eingesetzt hat: Die Erkenntnisse der Lektüre führen auf eine andere Ebene. Das perfekte Gift nämlich ist die Angst.
Mit der Furcht, einem Anschlag zum Opfer zu fallen, können einzelne Personen in Schach gehalten werden. Mit Angst lassen sich ganze Bevölkerungsgruppen dirigieren. Unter diesem Aspekt lassen sich Diktaturen aller Art vergleichen. Und auch das macht die Aktualität dieses beunruhigenden Buches aus.