Senthuran Varatharajah „Rot (Hunger)“: Die, nach denen wir uns verzehren

Der notwendige Abstand und der Drang, ihn nicht zu halten: Senthuran Varatharajahs offenherziger und doch verschlossener Roman „Rot (Hunger)“
Senthuran Varatharajah setzt sich in seinem Roman „Rot (Hunger)“ auf außergewöhnliche Weise mit den so vertraut geglaubten zwischenmenschlichen Polen Nähe und Distanz auseinander. Die Nähe: ersehnt und unerträglich. Die Distanz: notwendig und unmöglich. Die im Buch als eine Art Mantra eingesetzte Aufforderung, auf den Abstand zu achten – ein zentrales, gemeinsames Pandemieerlebnis, das dem Hinweis (zufälligerweise) eine besondere Intensität und Doppelbödigkeit gibt –, will ja nicht dazu passen, dass sich Menschen auf unterschiedlichste Weise nach anderen Menschen verzehren. Verzehren, eine Wendung, die in „Rot (Hunger)“ vielfältig auf den Punkt gebracht wird.
Bei dem Titelwort Rot sollte man ruhig an Blut denken, sicher auch an die hessische Kleinstadt Rotenburg, kurzum an den „Kannibalen von Rotenburg“ und den Mann, der sich 2001 von ihm aufessen lassen wollte. Beide hungrig, wie man sagen könnte und Varatharajah auch sagt. Der Autor zitiert die beiden Männer, nun als A und B. Er blickt vorbehaltlos auf das krude Geschehen, freilich auch – Abstand! – so kühl, dass der voyeuristische Blick trotz spektakulärer Details nicht auf seine Kosten kommen wird. Klar wird, dass das verbrecherische, aber irgendwo auch nicht verbrecherisch gemeinte Unterfangen sich als schwierig erwies, nicht aus moralischen, sondern technischen, handwerklichen Gründen. Das menschliche Gebiss taugt nicht recht dazu. Sich danach zu verzehren, den anderen zu verzehren, heißt noch nicht, dass man es auch hinbekommt.
Die zweite Grundebene des Buchs ist ein junger, aus Sri Lanka stammender Autor, dessen Lebenslauf und Aktivitäten in einer engen Verbindung zum Lebenslauf und den Aktivitäten von Senthuran Varatharajah stehen. Angefangen damit, dass sich der junge Autor mit dem Rotenburger Fall beschäftigt, bis hin zu Lesungs- oder anderen, leicht nachvollziehbaren Auftrittsdaten (etwa die Berliner Kanzelrede 2019).
Vermeintliche Orientierung
Varatarajah, 1984 in Jaffna in Sri Lanka geboren, hat in Marburg, Berlin und London Philosophie und Theologie studiert, machte zuerst beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt von sich reden (auch ohne den Hauptpreis), dann 2016 mit seinem Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“. Wobei biografische Anhaltspunkte im Buch nur vermeintlich Orientierung bieten. Den Daten, Orten und Namen zum Trotz eröffnet es einen Raum jenseits vertrauter Zeitrechnung und logischer Abfolge. „Rot (Hunger)“ ist ein offenherziger, zugleich zutiefst verschlossener Roman.
Das Buch:
Senthuran Varathajarah: Rot (Hunger). Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2022. 114 S., 23 Euro.
Die Vermittlerin auch zwischen diesen beiden Polen – vieles auszusprechen und doch verschwiegen zu sein bis zur Rücksichtslosigkeit gegen Leser und Leserin, die man hineingezogen hat in das Ganze – ist allein die Sprache. Die Sprache, noch eine Polarisierung, ist große Irritation und einziger Halt. „Wenn wir träumen, träumen wir nicht in rot. Wir träumen in Silben.“
Sprache ist eine Herausforderung, die Senthuran Varatharajah annimmt, indem er zugleich die Sprache herausfordert, sie überprüft auf Schritt und Tritt, sie in einer langgedicht-artig aufwendigen Gestaltung des Schriftbildes grafisch stückelt. Das Enjambement der Wörter wirkt in einem Buch, in dem das Zerlegen ja nun ein wesentliches Thema ist, nur ganz kurz manieriert. Dann ist es ein sanft radikales Auflösen des Vertrauten mit dem einfachsten Mittel, zugleich ein Beleg dafür, dass man Sprache nie unterschätzen sollte. „Als könnte Sprache nur feststellen, d. h.: das Mindeste sagen; a/ls wäre nichts geschehen. Als wären keine Sätze gebrochen worden, kei/ne Beine.“
Die Erfahrung des Autors im Buch (und offensichtlich auch die Erfahrung des Autors des Buches), „dort“ geboren zu sein, „nicht hier“, ist die Grundlage seiner irrwitzigen Aufmerksamkeit. „Als ich ein Kind war, dachte ich, da/ss Kabel die Abkürzung von Vokabel sei.“ Vokabel, kein Kinderwort, aber ein Wort für Kinder, die die Sprache wechseln müssen. Das Kind überlegt, wo die Vokabeln liegen, „die meinen Eltern fehlen“.
Es gibt also die Pole, es gibt aber auch die Grenzüberschreitungen, überall im Buch. Der liebende, küssende Autor denkt an Francis Bacon, der sich beim Metzger immer darüber gewundert habe, dass nicht er am Haken hänge, „instead of the a/nimal“.
Vielfalt der Gewalt
Der Grund für Verschwiegenheit und Komplexität, für die Andeutungen, Auslassungen, Szenenwechsel liegt glücklicherweise nicht darin, dass die Rotenburger Ereignisse den Autor im Buch zu sehr mitnehmen. Auch wenn die ihm nahestehende Stimme ihn mahnt: „du musst auf den Abstand achten. Zwischen dir und dem Roman“, so ist sein Blick doch eher der des Pathologen. Wenn etwas die Anspannung im Buch befördert, dann ist es die Geschichte des Autors. Die Gewalt im Land seiner Geburt und die andere Gewalt im Land, in das er gekommen ist. „Als ich ein Kind war, s/chrieb ich: häute . Wir hießen Dahergeschleifte, Asylantenschweine, Affen ; alle N-Wörter. Wenn sie haut ab sagten, zog ich meine Haut ab, nachts, auf dem Bett, mit meinen Zähnen. Du weißt es.“
Es ist gut, denkt man zu diesem Zeitpunkt, dass da jemand ist, der es weiß. Das Du ist es allerdings auch, dem der Autor immer fehlt, also auch, wenn er da ist. Der Mensch befindet sich stets auf aussichtslosem Posten, aber er hat Worte dafür.