„Seht mich an“ von Anita Brookner: Selbstverständlich schreibt sie alles auf

„Seht mich an“, Anita Brookners großartiger Roman über ein Single-Dasein.
Die Londonerin Anita Brookner (1928-2016), Tochter vor Pogromen geflüchteter polnischer Juden, gehört zu den unterschätztesten Schriftstellerinnen (Schriftsteller seien hier ausdrücklich eingeschlossen). 1984 erhielt sie für „Hotel du Lac“ den Booker-Preis, danach kam so gut wie nichts mehr an Würdigungen, obwohl Brookner von Anfang der 80er an fast jedes Jahr einen Roman vorlegte, zuletzt 2009. Bei dieser Missachtung dürfte das Sujet die größte Rolle gespielt haben: Frauen, die sich allein durchs Leben schlagen, Frauen, die darunter leiden – aber auch trotzig nicht den Erstbesten nehmen wollen. Die Kritik nannte die Autorin eine „Herrin der Düsternis“, „Mistress of Gloom“ – dabei muss man eher die stiff upper lip ihrer Heldinnen bewundern.
In „Seht mich an“ (1983) heißt die junge Ich-Erzählerin Frances Hinton – „und ich schätze es nicht, wenn man mich Fanny nennt“ –, sie verwaltet das Bildmaterial in der Präsenzbibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts, also „eine Enzyklopädie der Krankheit und des Todes“. Sie macht es gut, kann mit den Leuten umgehen, versteht sich großartig mit ihrer Kollegin Olivia. Aber ihr ist auch klar, dass sie vermutlich nie aufsteigen wird, denn auf den Chefposten sitzen Männer.
Man darf davon ausgehen, dass „Seht mich an“ autobiografische Elemente enthält, denn Anita Brookner war Kunsthistorikerin; immer wieder erwähnt Frances außerdem, dass sie sich Notizen macht für einen Roman. „Selbstverständlich“, heißt es einmal, selbstverständlich schreibe sie alles auf, als sie das extravagante Ehepaar Alix und Nick kennenlernt, das fast jeden Abend in einem bestimmten Restaurant Hof hält: „Ich war der Bettler bei ihrem Festmahl“, eine Bettlerin, die Beobachtungs-Krumen aufsammelt – beziehungsweise mit einem scharfen Schnabel aufpickt. Frances weiß auch, wo ihre Qualitäten liegen (die zweifellos auch die Brookners sind): den Kern von Menschen und Ereignissen geschwind zu erkennen und diesen mit Esprit, Ehrlichkeit und spitzer Zunge zu enthüllen.
Einen nüchternen Blick hat Frances auch auf die „Raubtierart“ von Alix, Tochter eines reichen Zuckerrohrpflanzers auf Jamaika, sie ist trotzdem froh, in den kleinen Kreis aufgenommen zu sein. Selbst wenn sie, da nun glücklich, nicht mehr schreibt. Denn zur Freundschaft (Freundschaft? na ja) mit Nick und Alix kommt eine Verbindung mit dem in der Bibliothek forschenden Dr. James Anstey, Mann mit großen, „zornigen“ Händen. Manchmal glaubt sie, dass es Liebe ist – jedenfalls auf seiner Seite. Bis sie, James’ Blicke auf Alix’ Freundin Maria wahrnehmend, begreift, dass sie das fünfte Rad am Wagen gibt.
Das Buch:
Anita Brookner: Seht mich an. Roman. A. d. Engl. von Herbert Schlüter. Eisele, München 2023. 282 S., 22 Euro.
Die komische Seite
Zweieinhalb Dinge sind Zuflucht für Frances (die von Alix und Nick natürlich „Fanny“ genannt wird): die Arbeit, das Schreiben – zum halben kommen wir später. Im Augenblick der Erkenntnis, dass James’ Begierde sich auf eine andere richtet, wahrt sie den Schein, indem sie sich als Schriftstellerin sieht, nur als „ein Auge, das ohne zu blinzeln das registriert, was in diesem Moment niemand für bemerkenswert hält“. Dazu „imstande, an allem die komische Seite zu sehen.“
Was die Bedeutung der (LOhn-)Arbeit betrifft, so kann das Fazit der nach dem Tod ihrer Mutter eigentlich wohlversorgten Frances auch heute noch jede alleinstehende Frau unterschreiben: „ich begriff, was mein Leben sein würde, wenn ich keinen Arbeitsplatz hätte“. Obwohl Tag für Tag dieselben Forschenden kommen – der schüchterne Dr. Simek, den niemand je nach seiner Herkunft fragt, die alkoholabhängige, oft auf Krawall gebürstete Mrs. Halloran –, ist die Routine für Frances keineswegs unangenehm.
„Ich wäre gern schön, träge, verwöhnt und unzuverlässig.“ Sie weiß, dass drei Attribute ganz und gar nicht auf sie zutreffen. Sie ist pflichtbewusst, auch wenn es ihr lästig ist, ihr moralischer Kompass ist haargenau eingestellt. Und da kommt die halbe Zuflucht ins Spiel: in der großen Wohnung in Maida Vale, die Frances geerbt hat, wohnt immer noch Nancy, einst Kinder-, dann Dienstmädchen. Zum einen bringt es Frances nicht übers Herz, Nancy, ehe sie ernsthaft gebrechlich wird, zu deren Schwester nach Irland zurückzuschicken. Zum anderen ist die Anwesenheit der alten Frau ihr Halt und Trost, Besänftigung. „Dann hörte ich, wie sie die Tür hinter sich schloss, ganz leise, so als schliefe ich schon.“ Nach der Schrecklichkeit des letzten Restaurantbesuchs mit Alix, Nick, James, Maria, gerät sie „in einen Zustand totaler Regression, als wäre ich, liebevoll umsorgt, in den Ferien“.
Anita Brookners Wahrheitssuche muss schmerzhaft gewesen sein, doch nirgendwo ist sie zurückgezuckt, immer sind ihre Sätze so eindeutig wie elegant, so rein und klar wie zum Mitfühlen einladend. Sie dringt in die Tiefe der menschlichen Natur. Sie lässt Frances verstehen, dass sie versucht hat, Erwartungen zu entsprechen – „Rohheit, Grausamkeit und Falschheit“ –, denen sie aufgrund ihres Charakters gar nicht zu entsprechen vermochte.
So hat „Seht mich an“, von Einsamkeit und Kummer erzählend, doch eine helle Seite: Anständigkeit und Hilfsbereitschaft verhelfen vielleicht nicht zu einem aufregenden Leben, aber am Ende kann Frances Rache nehmen, indem sie Alix, Nick und James zum „Material“ eines großen Romans macht.