Sehnsuchtsschwund
Andreas Schwab prüft die Bilanzen der Kommune Monte Verità bei Ascona
Von ULRICH HOLBEIN
Wie oft schreien Mythen nach Entzauberung? Sobald Normalverbraucher, die auch mal ihre wilden Jahre hatten, im Stau stehn, Wurst essen, Kreditkarten wechseln, sehnt sich ein hoher Prozentsatz nach 1969, ja, noch weiter zurück: zu jenen Langbärten um 1900, die im Tessin legendenumwoben, vegetarisch, nackt, antialkoholisch ein Naturkostleben hochzogen und jahrelang kaum scheiterten. Der Monte Verità wurde zum auratisch leuchtenden Urmodell für x Utopien, Groß- und Landkommunen, Ökotopia, bis hin zu FKK, Greenpeace, Peta.
Doch Patina aus Märchenzeit glüht verlorener und schöner als bei Sozialexperimenten wie Findhorn, Auroville, Rajneeshpuram, Utopiaggia, Damanhur. Der magische Magnet MV bietet Sympathisanten, die alle im Grunde ebenso leben wollen, aber nie tatsächlich so leben wollen, weiterhin, wenn auch nur noch museal präsent, ein Nostalgiepaket aus Jugendstil, Lebensreform, seltsamen Persönlichkeiten, alles bestens dokumentiert im (vergriffenen) Katalog von Harald Szeeman, 1984. Andere, verdächtig sehnsuchtsfrei, haben jede Utopie längst durchschaut, dank mangelnder Affinität, lassen sich's aber nicht nehmen, genau jene Mythen zu entzaubern, denen sie naturgemäß fremd bleiben müssen/wollen.
Andreas Schwabs Monte Verità - Sanatorium der Sehnsucht wirft kraft Titel und nudistischem Altgold-Cover einen Idealköder für Asconafreunde aus. Innen aber, in gut recherchierter Mogelpackung, lauern Zentralheizung und Inventurliste aseptisch rein merkantil-betriebswirtschaftlicher Perspektive. VWL-Mann Schwab liefert eine Betriebsgeschichte der Produktidee MV, quadratisch, sachlich, gut. Wer sich an Bettenbelegung, Kurpreisen, Verlustzonen, Immobilienspekulation, Investitionskostendeckung begeistern kann, wird vom Buchhalter-Report optimal bedient. Fremdenverkehrsmanager, Hotelbesitzer, Krankenhaushistoriker mögen erwarmen am Faktensalat der Doktorarbeit.
Das Naturkost-Hospital wird in eins gesetzt mit dem Begriff Monte Verità überhaupt. Dr. Schwab nennt die kulturelle und geistesgeschichtliche Renaissance "Projektionsfläche", "Fluchtpunkt aller Südenklischees", "Resonanzraum", "Referenzpunkt auf unserer intellektuellen Landkarte", "Bühne". Naturpropheten wie die Gebrüder Carlo und Gusto Gräser subsumiert er unter "Sonderlinge", "Utopisten", "verschrobene Sektierer", outet sich also als Spießer. Selbst Hans Arp, Else Lasker-Schüler, Hermann Hesse, die die Fama des Monte Verità in die Welt trugen, blieben "numerisch unerheblich" (Schwab). Herzerhebende Querbezüge zu Dadaismus, Theosophie, Okkultismus, Anarchismus, Sonnenkult, Feuer- und Nackttänzen bleiben unerwähnt oder unterbetont.
Kind und Porzellan der Badewanne
Pragmatismus, Technizistik & BWL, wogegen die Künstlerkolonie des Monte Verità focht, obsiegten vom ersten Tag an. Idealisten, Weltverbesserer und allzu konsequente Naturisten wurden abgeschoben. Gründervater Henri Oedenkoven reinkarnierte verdünnt in Dr. Schwab. Reinkarnationen damaliger Naturapostel hingegen müsste man im heutigen Business mit Lupe suchen gehn. Bitte nicht nur Subkultur-Spinner vom Sockel holen! Legt auch den benachteiligten Typen des Hightech den Finger aufs Manko! Ausgerechnet in einer Rentnerberg- statt Wahrheitsberg-Ära, die ohnedies an Sehnsuchtsschwund leidet, wird eine letzte Enklave, statt als Gegenwelt, als genau jene Welt enthüllt, von der sie sich abzusetzen versuchte. Hut ab vor kritischem Abstand, wer aber so sein Defizit zum Kriterium erhebt, unterliegt dem Hegeldiktum: dort rechtbehalten, wo die Sache nicht ist.
Und variiert ein welthistorisches Problem: dass jede Aufklärung stets das Beste dessen, was da entthront wird, nicht mitnimmt. Wer akribisch die Preisliste des Badewannenporzellans studiert, kann sich ums ausgeschüttete Kind nicht kümmern, trotz aller profunden Fußnoten. So ließe sich der Weimarer Musenhof aus Sicht herzoglicher Küchenmeister aufrollen, und die History des Cabaret Voltaire anhand abgezählter Eintrittskarten rekonstruieren. Scheuklappen als Basis, um überhaupt aufklären zu können. Ohne blinde Flecken keine Entmythologisierung.
Warum aber ziehen Musentempel, Ideen-Laboratorien, Dichterdenkergefilde stets so viel Amusische und Banausen an? Stabszahlmeister, Finanzexperten, Geschichtspolizisten auf Morgenlandfahrt. Elefanten im Porzellanladen; Ochsen vor dem Harfenspiel; Schweine, die Perlen runterrechnen. Trockner Blick contra Fantasie-Überschuss. Rationalismus-Ursünden wider (schein)heiligen Geist. Pausenlos am laufenden Meter produziert jedes Industriezeitalter graue Herren, gegen die Michael Ende in Momo umsonst focht, von Romantikern "Seelenkrüppel" genannt, und schon sind Richard Wagner, Michel Friedman, Guido Westerwelle in erster Linie Antisemiten, Kokser, Schwule, und Buddha Psychopath, Freud Reduktionist, und Wunder des Lebens nur Biomasse, und das Flaggschiff in eine punktuell bessere Welt bloß das Produkt von Theatrali-, Sakrali-, Mythologisierung, "Supermarkt der Projektionen", nichts als eine Touristikfirma, die trotz aller Kompromisse nicht florierte.
Roboter machen Ätsch: Idealisten denken auch nur ans Geld. Jesus warf Händler aus dem Tempel; Schwab aber schmeißt Priester raus, samt Tabernakel, Krypta, Altar, paktiert mit den Händlern, genauer: der Touristikbranche Ascona. Insofern ein Novum. Weiterhin wünschbar bleibt, im Zeitalter hapernder Wiederverzauberung, eine etwas allseitigere Kulturgeschichte des Monte Verità, die dann wieder den Dr. Schwab zur desolaten Fußnote relativiert. Unterdessen muss seine Verfahrensweise genügen. Zumal sie für Uneingeweihte plausibel klingt.