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Sehnsucht nach Idylle

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Von: Stefan Michalzik

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Helene Fischer tritt Ende 2017 bei der Bambi-Verleihung auf.
Helene Fischer tritt Ende 2017 bei der Bambi-Verleihung auf. © rtr

Georg Seeßlens lakonisch emphatischer Band „Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung“.

Zeit meines Lebens“, mit diesem Bekenntnis hebt dieses Buch an, „habe ich Pop geliebt und gehasst“. Befreiung und Unterdrückung, Wahrhaftigkeit und Verlogenheit, Rebellion und Korrumpierung. Betonung der Klassenunterschiede und deren Überwindung. Universal, regional und national – „Pop macht einfach alles mit“, schreibt Georg Seeßlen. In dem Band „Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung“ unternimmt der Münchner Kulturkritiker, Jahrgang 1948, einen Versuch, dem allgegenwärtigen Phänomen nahezukommen. Popkultur, so leitet er es von Antonio Gramsci her, seinem am häufigsten zitierten Zeugen, sei unter anderem, was einst die Religion gewesen ist: „...ein Wahnsinnsvorrat an Poesie, Phantasie und Vergnügen, und ein Wahnsinnsvorrat an Verblödung, Unterdrückung und Angst“.

Zentral spricht Seeßlen von einer Eroberung der Popkultur durch die Neue Rechte. Längst habe die erkannt, dass der politische Kampf auch über eine kulturelle Hegemonie entschieden werde. Die dreieinige Utopie von Pop, Sex und Fortschritt habe sich umgekehrt in eine Sehnsucht nach Begrenzung und Idylle. Helene Fischer gehöre so sehr „uns“, dass man sich schwer vorstellen könne, wie sich ein dunkelhäutiger Mann in eines ihrer Konzerte verirrt. Pop erlaube eine „Nationalisierung von Sex“ ohne offenes Bekenntnis zu Ideologie und Rassismus.

An die Stelle des einstigen Versprechens von Offenheit und politischer wie sexueller Befreiung, für den der Pop in den Jahrzehnten des „Wohlfühlkapitalismus“ bis um 1980 gestanden habe, sei inzwischen ein „Normalisierungspop“ getreten. Nicht länger lauteten die Fragen: „Woher komme ich? Was darf ich hoffen?“, sondern vielmehr: „Was ist normal?“ – in den Grenzen, die der Pop vorher geweitet habe.

Georg Seeßlen sieht Pop auch als einen Faktor der Prekarisierung. Beim kulturell diversen und daher nicht solidarischen Prekariat handle es sich um eine Klasse, deren Mitglieder einzig aufgrund popkultureller Überfütterung überlebensfähig seien.

Der von den Redakteuren in den Fernsehanstalten beförderten „volkstümlichen Unterhaltung“ schreibt Seeßlen die Bildung eines Fundaments zu einer „kulturellen Hegemonie für eine neo-völkische Bewegung“ zu, nicht zuletzt ob einer Konstruktion von Feindbildern, derzufolge die intellektuellen Kritiker keine Ahnung vom Leben der „kleinen Leute“ haben, das sich in ebendieser Musik spiegle. Analytische Schärfe steht neben blanker Behauptung. Mitunter stellt Seeßlen Thesen in den Raum, und da stehen sie dann. Ungeachtet derartiger Ärgernisse ist dieses mit einer lakonischen Emphase geschriebene Buch durch seine panoramatische Perspektive mit großem Gewinn zu lesen.

Wünschenswert wäre im Übrigen ein Personen- und Sachregister, ein etwas aus der Mode gekommenes Essential, auf das die Lektorate sich wieder besinnen sollten. Ein immer wieder aufgenommener Strang gilt der Popkritik, der Seeßlen „eine ironische Meta-Haltung“ zuschreibt. Die Popkritik stehe neben sich selber und mache sich über das eigene Nerdtum lustig; an ihren Gegenstand glaube sie so wenig wie an die Gemeinschaft der Adressaten.

Zumindest für Teile der Popkritik ist das zutreffend. „Nur durch radikale Kritik“, so Georg Seeßlen, „kann Pop noch gerettet werden vor der selbstverschuldeten großen Egalheit“. Eine neue analytische Ernsthaftigkeit in diesem Sinne – das ist doch ein Projekt.

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