Schriftstellerin Amélie Nothomb: „Das Leben ist ein Labor“

Die Schriftstellerin Amélie Nothomb spricht im Interview über die Vivisektion der eigenen Person beim Schreiben, grausige und weniger grausige Vater-Tochter-Beziehungen und ihren Roman „Ambivalenz“.
Beginnen wir mit dem sichtbaren Teil Ihres Werkes – ist Ihnen Ihr Hut abhandengekommen?
Seien Sie nicht enttäuscht, dass ich keinen trage. Seit der Covidzeit trage ich meine Kopfbedeckung weniger häufig. Mit ihr und meinen – natürlich ebenfalls schwarzen – Gesichtsmasken sah ich aus wie Zorro (lacht). Zur Arbeit im Pariser Verlagsgebäude komme ich mit meinem Fahrrad. Dabei einen Hut zu tragen, ist nicht leicht.
Arbeiten Sie immer noch ohne Computer und Handy, sind nur mit einem Kugelschreiber ausgerüstet?
Als ich vor dreißig Jahren mit dem Schreiben begann, war es normal, weder Computer noch ein Handy zu haben. Das ist meine Normalität, und sie ist es bis heute geblieben. Ohne Telefon zu sein, verschafft mir eine totale Freiheit. Ich bedaure meine Kollegen, die rund um die Uhr erreichbar sind. Ich mag die Idee, dass niemand weiß, wo ich bin, wenn ich den Verlag hier jeweils um die Mittagszeit verlasse.
Einen Computer brauchen Sie auch nicht?
Nein, und ich beglückwünsche mich zu meinem technologischen Null-Level. All meine Berufskollegen haben an ihrem PC schon mindestens ein Manuskript verloren. Und sie sind gestresster als andere, erliegen der Versuchung, in die sozialen Medien zu schauen. Das ist tödlich.
Geht das für Sie, weil Sie mit einem Computerexperten zusammenleben, der Ihnen bei Recherchen behilflich sein kann?
In zwanzig Jahren hatte ich ganze drei Fragen an ihn – bedeutungsloser Natur, wohlgemerkt.
Gehört es auch zu Ihrer „Normalität“, um vier Uhr morgens, wenn Paris schläft, mit dem Schreiben zu beginnen?
Spätestens um vier. Mit den Jahren verschlechtert sich mein Schlaf, ich wache auch ohne Wecker immer früher auf. Ich schreibe jeweils vier Stunden, dann ziehe ich mich korrekt an und fahre zum Verlag, wo ich nochmal fünf Stunden lang Leserzuschriften beantworte. Vielleicht bin ich die Reinkarnation eines mittelalterlichen Kopisten-Mönchs (lacht). Ich bin an meinem 105. Roman. Wobei nur 30 publiziert sind.
Warum nur ein gutes Drittel?
Mit geht es beim Schreiben nicht in erster Linie um die Publikation, sondern darum, etwas aufzuklären, das sich mir zuerst entzieht. Manchmal denke ich beim Durchlesen: Schau an, das würde ich gerne mit jemandem teilen. Dann wird es publiziert. Sonst nicht.
Da redet sonst keiner mit?
Genau. Albin-Michel würde natürlich gerne an meiner Stelle entscheiden. Das kommt aber nicht infrage. Entscheiden tue ich, und ich allein.
Doch wenn Sie einen Roman beendet haben, beginnen Sie umgehend einen neuen.
Ja, dazwischen liegt keine Sekunde.
Bedeutet das, dass Sie über Ihren neuen Roman nachzudenken beginnen, noch während Sie am alten schreiben?
Ja, ich werde von meinem neuen „Kind“ schwanger, während ich das vorhergehende etwa zur Hälfte ausgetragen habe. Das erlaubt es mir, dauernd im Schöpfungsprozess zu bleiben. Und es ist nebenbei gesagt ein exzellentes Mittel, die Inspiration zu wahren und Ideen zu haben.
Steckt dahinter auch die Angst, einmal ohne Projekt dazustehen?
Ja, eine riesige Angst, geradezu Panik. Zum Glück ist mir das in den letzten Jahren nie passiert, ich war immer von einer Idee oder einem Vorhaben schwanger.
Verblüffend ist, wie sehr sich der Tonfall Ihrer Bücher jeweils ändert. Einmal leicht und witzig, dann wieder schrecklich bedrückend.
Sie haben recht. Beide Seiten sind für mich wahr. Manchmal muss ich während des Schreibens lachen, und dann frage ich wieder: Warum schreibst du solche scheußlichen Dinge?
Schafft Lachen auch Distanz?
Manchmal schreibe ich furchtbare Geschichten, von einem Vater, der seine Tochter verabscheut, oder einer Tochter, die ihren Vater umbringen will. Aber wenn ich es mit großer Distanz schreibe, dann wird es mit einem Mal drollig.
Ihr neuer Roman, „Ambivalenz“, hat einen harten Prolog, in dem eine Frau ihrem Liebhaber gleich nach dem Sex und noch im Bett mitteilt, sie verlasse ihn für einen anderen.
Ja, und dabei gibt es keine Distanz. Dieser Einstieg vermittelt ein Rätsel. Wie erklärt es sich, was der Hauptperson Dominique 25 Jahre lang passierte, ohne dass sie den Grund versteht? Das ist zugegeben grausam. Zum Glück – ich würde sagen: fast durch ein Versehen – endet die Geschichte für sie nicht allzu schlecht.
Dazu kommt ein Vater-Tochter-Verhältnis voller Hass, Rachedurst und Verachtung. Steckt da Biografisches drin?
Nein, so war meine Jugend überhaupt nicht. Ich hatte wunderbare Eltern. Sie waren gewiss nicht perfekt, aber sie liebten uns Kinder. Die beschriebenen Konflikte sehe ich hingegen häufig in meiner Umgebung, und ich habe die Mechanik, die zu diesem Hass führt, in vielen meiner Bücher seziert. Manchmal ist die Mutter das Monster, hier ist es der Vater.
Zur Person
Amélie Nothomb, geboren 1966 in Brüssel, ist eine der meistgelesenen Autorinnen des französischen Raums – und eine der exzentrischsten. Die Tochter eines belgischen Botschafters wuchs an mehreren Orten Asiens auf, angefangen in Japan, wo sie mit ihrem ersten Roman „Mit Staunen und Zittern“ gleich einen Bestseller schrieb.
Sie hat dreißig Romane publiziert, die meisten auch auf Deutsch. Am morgigen Mittwoch, 22. Juni, erscheint bei Diogenes ihr neuester Roman „Ambivalenz“ (128 S., 20 Euro).
In Ihrem neuesten Buch „premier sang“, das erst auf Französisch vorliegt (und das nächstes Jahr auf Deutsch erscheinen wird), versetzen Sie sich fast physisch in die Person Ihres Vaters, der Aristokrat und Botschafter war.
Ja, ich schreibe in der Ich-Form ... aus der Sicht meines Vaters. Veranlasst dazu hatte mich sein Tod vor zwei Jahren. Wegen der Covidzeit konnte ich nicht zur Beerdigung nach Belgien fahren, sodass auch die Trauerarbeit unmöglich war. Dafür ließ ich ihn in diesem Buch auferstehen, um mich von ihm verabschieden zu können. Und ich kann Ihnen sagen, während der Niederschrift war ich buchstäblich mein Vater.
Das erinnert an das Buch „Die Passion“, in dem Sie in die Person von Jesus schlüpften, um dessen Kreuzweg auch aus der Ich-Perspektive zu beschreiben.
Deshalb sagte ich mir: Wenn ich schon Jesus „war“, hindert mich nichts daran, auch in das Leben meines Vaters zu schlüpfen. Er wäre darüber erfreut gewesen.
Früher haben Sie aber auch sehr harte Worte gegenüber Ihren Eltern gefunden – etwa zu deren Wortlosigkeit, nachdem Sie als Kind in Bangladesch vergewaltigt worden waren.
Dieses Schweigen trage ich ihnen nicht nach. Damals sprach man nicht über solche Dinge. Heutzutage spricht man darüber – doch geht es den Mädchen deshalb besser? Ich bezweifle es.
Welche Rolle spielt die eigene Biografie generell für eine Schriftstellerin?
Das Leben ist ein Labor. In meinen Büchern geht es nun mal um die menschliche Natur, und meine Person steht mir am ehesten zur Verfügung, um auseinandergenommen zu werden.
Wenn Sie in „Ambivalenz“ sehr präzise schreiben, die zentrale Teenagerin habe „von 11 bis 14 wie eine Tote“ gelebt – stammt das aus Ihrem Leben?
Sagen wir, bei solchen Bemerkungen stehe ich der Person sehr nahe.
In „Ambivalenz“ sind die Beziehungen zwischen Frauen sehr stark, eng und intuitiv ...
In anderen meiner Bücher ist das Verhältnis zwischen Frauen hingegen absolut grauenvoll. Je nachdem. Ich bin ein wenig wie ein Feldherr, der verschiedene militärische Strategien plant, je nach Umfeld und Szenario. Man könnte sagen: General Nothomb schickt seine Soldaten in Position.
Die japanische Geschäftswelt, die Sie in „Staunen und Zittern“ beschreiben – ist sie real oder haben Sie das erfunden?
Ich habe in diesem Buch nichts erfunden. Ich habe die Umstände sogar heruntergespielt, um einzelne Horroraspekte der japanischen Unternehmen nicht in das Buch aufnehmen zu müssen. Trotzdem wurde mir vorgeworfen, ich hätte übertrieben.
Und Ihre alptraumhafte Begegnung mit der englischen Modeschöpferin Viviane Westwood, beschrieben in „Die Kunst, Champagner zu trinken“ – hat sich sich so abgespielt?
Absolut. Ich war im Auftrag von „Vogue“ unterwegs und wurde von Viviane Westwood wie Dreck behandelt. Da ist nichts übertrieben. Mit Briten habe ich oft Mühe – obwohl der Name Nothomb weit entfernt sogar britischen Ursprungs ist.
In Ihrem Champagner-Buch schreiben Sie, Fragen zu stellen sei oft schwieriger, als sie zu beantworten. Gibt es eine journalistische Frage, die Sie der Schriftstellerin Amélie Nothomb gerne stellen würden und auf die noch niemand gekommen ist?
Was ich rückblickend gerne wüsste: Wie wäre es für mich gewesen, wenn ich schon im Alter von 18 bis 20 Bücher gelesen hätte? Damals war ich ein intellektueller Snob, weit entfernt, Bücher zu lesen oder gar zu schreiben. Was hätte ich damals von all diesen literarischen Meisterwerken gedacht, wie wäre es herausgekommen? Das werde ich leider nie wissen.
Sie sind Belgierin, leben aber in Paris. Bedeutet diese Stadt Exil für Sie – oder Highlife, Pracht und Herrlichkeit, wie sich eine Frau in „Ambivalenz“ ausdrückt?
Highlife. Ich habe zwar noch eine Wohnung in Brüssel; aber nach Paris „hochzugehen“ („monter à Paris“), wie man auf Französisch sagt, ist für eine kleine Belgierin immer noch etwas Spezielles. Paris ist die Stadt, in der einem alles widerfährt. Eine sehr harte, gewalttätige Stadt, aber außergewöhnlich, mit Energie, Glanz und unglaublichen Möglichkeiten. Paris ist ein Delirium, ein Wahn.
Nehmen Sie am mondänen Pariser Leben teil?
Kaum. Hingegen beteilige ich mich sehr aktiv am Leben rund um den Champagner. Langsam spricht sich herum, dass Amélie Nothomb der größte Champagner-Fan der Welt ist, so dass ich Einladungen zu Soireen und Degustationen erhalte. Ich sage nie nein. Mein letzter Wunsch wäre ein Jahrgang, eine „cuvée Amélie Nothomb“. Ich erhielt schon Angebote, aber sie passten nicht.
Was würde zu Ihnen passen?
Ein „blanc de noir“, ein heller Champagner aus dunklen Trauben wie Pinot noir. Dieser Champagner, „weiß aus schwarz“, ist rar und paradox, vermischt er doch die helle Leichtigkeit mit rauer, dunkler Herbheit. Diese Mischung entspräche mir, der Tonalität meiner Bücher.
Wie blicken Sie als Belgierin auf die Wahlen und allgemein die Politik in Frankreich?
Ich bin etwas desorientiert und beunruhigt über die französische Politik – den Vormarsch der extremen Rechten, die immer niedrigere Wahlbeteiligung. Auch Jean-Luc Mélenchon macht Angst, obschon etwas weniger. Er ist ein Populist, und ich verstehe nicht, warum sich die französischen Sozialisten ihm angeschlossen haben.
Emmanuel Macron verliert dagegen an Popularität.
Ich kann die Kritik an ihm nachvollziehen, ich billige auch nicht alles, was er sagt. Aber das Ausmaß der Ablehnung ist schon Wahnsinn. Das begünstigt ebenfalls den Populismus.
Ist Macron mit seiner herablassenden Art schuld daran?
Ich denke, nicht nur. Da spielt auch ein sozialpsychologisches Phänomen mit, eine Art Massenbewegung.
... .angefacht durch die Gelbwesten-, Covid- und anderen Krisen der letzten Zeit?
Auch die Gelbwesten kann man verstehen, wenn man die Misere der vernachlässigten Provinzstädte Frankreichs sieht. Zugleich glitt diese soziale Krise in einen Wahn ab, der bis zu Antisemitismus und Verschwörungstheorien führte. Das ist schon beunruhigend.
Woher kommen all die Toten in Ihren Büchern?
Ich habe wie alle einen Todestrieb. Ich habe gelernt, ihn zu mäßigen, um Probleme zu vermeiden (lacht). Schreiben ist eine gute, vom Gesetz nicht bestrafte Methode, Leute loszuwerden.
Gehen Frauen dabei speziell vor? In „Ambivalenz“ zieht eine Täterin an einem Krankenbett schlicht den Stecker.
Diese Szene habe ich mir lange ausgemalt. Stellen Sie sich vor, Sie gehen ins Spital, besuchen einen Patienten, den Sie verabscheuen, und finden sich mit ihm allein im Zimmer vor – was liegt näher, als ihn abzuschalten? Nur nicht vergessen, danach das Gerät wieder anzuschalten!
Interview: Stefan Brändle