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Schreibend gegen das quälende Rätsel des Todes

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Von: Monika Gemmer

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Theodor Storm um 1880.
Theodor Storm um 1880. © epd

Vor 200 Jahren wurde Theodor Storm geboren, der mehr war als ein Heimatdichter.

Gegen Ende seines Lebens zieht Theodor Storm noch einmal einen guten Anzug an, lässt sich in einem gepolsterten Lehnstuhl nieder und sitzt still für eine Fotografie. Wir sehen einen stattlich wirkenden alten Herrn mit faltigem, von weißem Haar und Vollbart umrahmtem Gesicht. Sein Blick ist ernst, fast ein wenig streng. Man könnte ihn für einen friesischen Kapitän im Ruhestand halten. Oder für einen pensionierten Deichgrafen, wie Hauke Haien es geworden wäre, hätte der „Schimmelreiter“ sich nicht in die tödliche Sturmflut gestürzt. Die populärste Storm-Novelle ist noch nicht zu Papier gebracht, als ihr fast siebzigjähriger Erzähler sich im Jahre 1886 ablichten lässt. In seinem Kopf spukt der gespenstische Reiter indes schon lange.

Zeitgenossen beschreiben Theodor Storm als schmalbrüstig

Gemein hat der Dichter mit seinem bekanntesten Protagonisten so gut wie nichts. Als hochgewachsener Friese mit stechend-scharfem Blick kann Theodor Storm nicht durchgehen: Zeitgenossen beschreiben ihn als schmalbrüstig, von mittlerer Größe, mit leicht gebeugter Haltung, schleppendem Gang, langsamer Sprechweise. Statt gegen die Naturgewalten kämpft er eher mit seiner inneren Natur: Ein Leben lang wird er gegen die eigene Schwermut anschreiben. In Vergänglichkeit und Tod, die Liebe und Familie bedrohen, findet er die Generalthemen für seine Gedichte, Märchen, Novellen.

Hans Theodor Woldsen Storm wird am 14. September 1817 in Husum an der Westküste Schleswigs geboren, in vergleichsweise privilegierte Verhältnisse hinein: Mutter Lucie Woldsen entstammt einer alteingesessenen Husumer Patrizierfamilie, Vater Johann Casimir ist Notar aus der Gegend um Rendsburg, was den Sohn, der mit dem „Schimmelreiter“ eine Art nordfriesisches Nationalepos schaffen wird, nur zum halben Friesen macht. In Theodors Elternhaus wird hochdeutsch gesprochen, ab und an plattdeutsch, doch kein Wort friesisch.

Husum hat seine Glanzzeiten hinter sich, doch im Haus der Eltern, mehr noch im Anwesen der Großeltern in der Hohlen Gasse kann der kleine Theodor sie noch am Rockzipfel fassen, die gute alte Zeit, als die Austernfischerei und der Handel mit Friesensalz, Vieh und Pferden das Städtchen hat aufblühen lassen.

Schleswig ist zu dieser Zeit dänisches Herzogtum. Vom Monarchen im fernen Kopenhagen lässt man sich nördlich der Eider bereitwillig regieren – solange er die Friesen Friesen sein lässt, sind sie’s zufrieden. Ohnehin ist die Nordsee die einzige Obrigkeit, der man sich hier unterwirft. Die verheerende Grote Mandränke von 1362 machte Husum groß, als sich das Meer so weit ins Land fraß, dass der unbedeutende Flecken über Nacht zur Küstenstadt wurde und zum Handelsknotenpunkt aufsteigen konnte. Rund 300 Jahre später verschlang die große Sturmflut von 1634 neben 6000 Menschen auch Husums Kornkammer und läutete ihren langsamen Niedergang ein. Die letzten Zuckungen spielen sich vor den Augen des jungen Theodor Storm ab: Der Handel stockt, der Hafen verschlickt, über die Gassen und Häuser legt sich jenes Grau, das der Dichter seinem Geburtsort nachhaltig anheften wird.

„Husumerei“ – der Spott Fontanes lässt ihn kalt

Abseits der grauen Stadt, in Geest und in Marsch, findet der Junge mit der Neigung zur Lyrik seine Motive: „In der Landschaft, wo ich geboren wurde, liegt, freilich nur für den, der die Wünschelrute zu handhaben weiß, die Poesie auf Heiden und Mooren, an der Meeresküste und an den feierlich schweigenden Weideflächen hinter den Deichen; die Menschen selber dort brauchen die Poesie nicht und graben nicht danach ... .“

Er selbst muss nicht graben, er schaut nur hin und fasst in Worte, was er empfindet: Die Heide liegt still, die Bienen summen verschlafen, am Strand weht das Gras. „Kein Klang der aufgeregten Zeit drang noch in diese Einsamkeit.“ Dass Storm viele Stoffe für seine „Erlebnislyrik“, seine Märchen voller Spökenkiekereien, und auch viele seiner fast 40 Novellen aus unmittelbarer Umgebung schöpft, drückt ihm früh den Stempel als Heimatdichter auf. Den Vorwurf der „Provinzsimpelei“ muss er sich ausgerechnet von dem preußischen Lokalpatrioten Theodor Fontane anhören, den Storm in Berlin kennenlernt.

Nach Kiel und Berlin ist der junge Mann aus Husum ausgezogen, um Jura zu studieren. „Es ist das Studium, das man ohne besondere Neigungen studieren kann; auch war mein Vater ja Jurist.“ Das Dichten und die Juristerei bringt Storm ein ganzes Berufsleben lang offenbar gut unter einen Hut: „Mein richterlicher und poetischer Beruf sind meistens in gutem Einvernehmen gewesen, ja, ich habe sogar oft als eine Erfrischung empfunden, aus der Welt der Phantasie in die praktische des reinen Verstandes einzukehren und umgekehrt.“ Aus verhandelten Fällen schöpft er literarische Stoffe, und das juristisches Fachwissen fließt in manche Novelle ein.

Während des Studiums entdeckt er Heine und Eichendorff, lernt Emanuel Geibel und Eduard Mörike kennen, debattiert mit den Brüdern Tycho und Theodor Mommsen, die in Kiel seine Freunde werden. Überall aber bleibt er der Junge aus der Provinz, das lassen sie ihn spüren. Und eigentlich will er nichts anderes sein. Storm hält in Berlin trotzig an friesischen Teezeremonien fest, schmückt den Weihnachtsbaum in den Farben Schleswigs und zuckt die Schultern, wenn Fontane mal wieder über seine „Husumerei“ spottet.

Der frotzelnde Kollege zielt damit auch auf Storms Werke. In Thomas Mann aber findet Storm posthum einen sich seelenverwandt fühlenden Verteidiger gegen den Vorwurf der Provinzdichterei: „Das hohe und innerlich vielerfahrende Künstlertum Storms hat nichts zu schaffen mit Simpelei und Winkeldumpfigkeit, nichts mit dem, was man wohl eine Zeitlang ‚Heimatkunst‘ nannte“, schreibt Mann in seinem 1930 erschienenen Storm-Essay. Dem Werk des Husumers bescheinigt er die „absolute Weltwürde der Dichtung“.

In die Heimat kehrt Storm gleichwohl frohen Herzens zurück. In Husum baut er sich ab 1842 eine bürgerliche Existenz auf, eröffnet eine Kanzlei und bietet seiner Cousine Constanze Esmarch die Ehe an – die Liebe zu ihr wird erst später erwachen. Storm spürt, dass er eine Familie braucht, „Kern und Herz der Heimat“, wie Thomas Mann formuliert, eine schützende Wagenburg, wie es Storm wohl empfindet. Die Familie und das Schreiben sind die Waffen, mit denen er das Gefühl der Vergänglichkeit und seine stete Angst vor Verlust in Schach zu halten versucht. Jeder Mensch sei doch nur „ein kleines Sandkorn der großen Welt“, das „verweht und vergeht und vergessen wird“, klagt er 1846 in einem Brief an seine Braut. Dagegen schreibt er an, in einem „stillen, unablässigen Kampf“ gegen das „quälende Rätsel des Todes“.

Unverkennbar sind die autobiografischen Bezüge: Für seinen erstgeborenen Sohn Hans erfindet Theodor Storm 1849 das Märchen vom „Kleinen Häwelmann“. Als sein Ältester später dem Alkohol verfällt, verarbeitet der Vater seine Schuldgefühle literarisch, unter anderem in der Novelle „Carsten Curator“. Das Motiv vom verlorenen Sohn, die menschliche Tragik im Zerfall einer Familie tauchen in Storms Prosa immer wieder auf, so in „Der Herr Etatsrat“, „Hans und Heinz Kirch“ oder „Bötjer Basch“. Seinem als Musiker mäßig erfolgreichen Sohn Karl widmet er „Der stille Musikant“, und auch sein Liebesleben (Storm beginnt gleich nach der Hochzeit eine anderthalb Jahre währende Affäre mit Dorothea Jensen, die nach Constanzes Tod seine zweite Ehefrau wird) findet Niederschlag in seinen Gedichten.

An seine Lyrik stellt er Ansprüche, die über das individuelle Erleben hinausgehen: Es gehe darum, „eine Seelenstimmung derart im Gedichte festzuhalten, dass sie durch dasselbe bei dem empfänglichen Leser reproduziert wird, wobei freilich der Wert und die Wirkung des Gedichts davon abhängen wird, dass sich die individuelle Darstellung mit dem allgemeingültigen Inhalt zusammenfinden.“ Gemessen daran nennt Storm seine frühen Gedichte „inhaltslose Spielerei“ und „Flügelprüfen“. Später weichen sprachliche Schnörkel einem präziserem Duktus, die subjektive Empfindung einem sachlicheren Stil. Storm streicht oft ganze Passagen und beobachtet mit Genugtuung, „wie das Wesentliche der Dichtung überall ungeschwächt und kräftig zusammenrückt und hervortritt. Überflüssiges zu streichen ist mir immer hinterher die größte Wonne gewesen“.

Der Schimmelreiter begleitet ihn sein Leben lang

Langatmige Beschreibungen bremsen ihm die dramatische Handlung zu sehr. In der Novelle, für Storm die „Schwester des Dramas“, findet er die passende Form für seine Prosa, hier erprobt und entwickelt er die Erzählweise, die ihn zu einem wichtigen Vertreter des poetischen Realismus machen wird. Gerne greift er auf die Technik der Rahmenhandlung zurück: Nicht der Autor, sondern ein fiktiver Erzähler schildert das Geschehen aus persönlicher, mitunter lückenhafter Perspektive, wie in den Novellen „Im Nachbarhause links“ und „Pole Poppenspäler“, der Geschichte einer Kinderfreundschaft, die, den Schicksalsschlägen des Lebens trotzend, zu einer tragfähigen Ehe wird. Die Protagonisten in „Immensee“, Elisabeth und Reinhard, trauern in erinnernden Rückblenden ihrer ungelebten Liebe nach – die Gegenwart hat hier so wenig Handlung, dass nicht nur Storms Freund Tycho Mommsen sich nach der Lektüre fragt: „Warum schreibt er denn so fades Zeug?“ Das fade Zeug wird der größte Erfolg Theodor Storms zu dessen Lebzeiten.

Als die Novelle 1853 erscheint, ist Storm Gerichtsassessor in Potsdam. Diesmal hat er Husum unfreiwillig verlassen: Das Gezerre um Schleswig zwischen dänischen und deutschen Nationalisten war 1848 kriegerisch eskaliert; Dänemark zwingt den Demokraten Storm, der im Grunde beiden Seiten mit Skepsis begegnet, ins Exil. Vor der „Arbeits-Hetzjagd“ in Potsdam, die ihm Zeit zum Schreiben nimmt, flieht Storm 1856 nach Heiligenstadt. Hier ist er acht Jahre lang Kreisrichter, bevor er 1864 ins inzwischen preußische Husum zurückkehren kann. Bis zum Ende seiner Juristenlaufbahn ist Storm in der Heimatstadt als Landvogt, Amtsrichter und Schriftsteller tätig.

1880 verlässt der Dichter Husum ein drittes und letztes Mal. Er tauscht sein „Poetenstübchen“ in der Wasserreihe – im heutigen Storm-Museum wohnte er nach Constanzes Tod mit seiner zweiten Frau – gegen einen Alterssitz in Hademarschen, wo ein jüngerer Bruder lebt. Im Gepäck hat er die Idee, die ihn schon sein Leben lang begleitet: Storm will die Legende vom Schimmelreiter erzählen. Schon als Junge hat er in einer Zeitschrift von der Sage gelesen, die ursprünglich an den Deichen der Weichsel nahe Danzig spielt. Wie üblich verwendet er viel Zeit auf Vorarbeiten und Recherche, gilt es doch, „einen Deichspuk in eine würdige Novelle zu verwandeln, die mit den Beinen auf der Erde steht“. Storm reist mehrmals nach Heide, um sich von einem Deichbauingenieur mit der Thematik vertraut machen zu lassen, und sammelt so viel Fachwissen, dass er meint, er werde „nächstens auch einen Koog eindeichen können“.

Nun aber kommt ihm die Gesundheit in die Quere: Theodor Storm erkrankt an Magenkrebs. Noch einmal wird die Familie zum schützenden Bollwerk: Einer seiner Söhne, der Arzt ist, macht dem Vater gegen alle Prognosen genug Mut, so dass Storm sich noch einmal aufraffen kann. Die Publikation des „Schimmelreiter“ in einer Zeitschrift 1888 erlebt er noch mit, den Druck in Buchform nicht mehr: Theodor Storm stirbt am 4. Juli 1888 in Hademarschen.

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