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Die Schatten mit sich tragen

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Von: Sylvia Staude

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Eine irrlichternde Gesellschaft: In den 50ern vor Belfasts City Hall.
Eine irrlichternde Gesellschaft: In den 50ern vor Belfasts City Hall. © imago/ZUMA/Keystone

Eoin McNamees düsterer Roman „Blau ist die Nacht“ über zwei reale Morde im Belfast der Nachkriegszeit.

An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit wäre Robert Taylor wegen Mordes verurteilt worden. Alles sprach gegen ihn. Das Blut auf seinem Mantel und seinen Schuhen. Seine Schulden. Die Aussage des Ladenbesitzers, dass er zum fraglichen Zeitpunkt keine Zeitung bei ihm gekauft hatte. Die Aussage der Nachbarin der Ermordeten, die Taylor am Tattag in der Straße sah. Nicht zuletzt die Aussage der Überfallenen, die noch zwei Tage im Krankenhaus lag, ehe sie starb. Mehrfach benannte sie „Robert den Maler“ als Täter, sie kannte ihn gut, er hatte einige Monate vorher bei ihr Malerarbeiten gemacht.

Aber die Geschichte spielt im Belfast des Jahres 1949, die Getötete ist eine fromme alte Katholikin, der Täter Protestant, die politisch Verantwortlichen in der Stadt haben Angst, dass es unter den jungen Protestanten zu Unruhen kommt, wenn einer der Ihren wegen einer Papistin hingerichtet wird. Die so genannten Verantwortlichen sorgen also dafür, dass ein (bestochenes) Jury-Mitglied gegen alle Indizien auf „unschuldig“ besteht, dass die Revision aus formalen Gründen scheitert.

Der 1961 geborene irische Schriftsteller Eoin McNamee hat diesen wahren Fall, dazu den drei Jahre später verübten, nie aufgeklärten Mord an der 19-jährigen Patricia Curran, die die Tochter des Staatsanwalts Lancelot Curran war, in seinem Roman „Blau ist die Nacht“ („Blue Is the Night“, 2014) bearbeitet.

Sie hat "schwache Nerven"

McNamee zeichnet das Bild einer seltsam irrlichternden, ihrer selbst ungewissen Gesellschaft – vielleicht, weil sie im Umbruch ist, weil sowohl die religiösen Bindungen als auch die patriarchalen brüchig werden. Curran, ein kalter, herrischer Mann, ein Spieler zudem, hat eine Frau mit „schwachen Nerven“ (das ist bei diesem Ehemann kein Wunder, denkt seine rechte Hand, Ferguson). Doris Agnes Curran ist zu allem Überfluss in Broadmoor aufgewachsen, ihr Vater war Leiter der Anstalt.

Desmond, der Sohn, wird katholischer Priester, ausgerechnet. Patricia, die Tochter, ist lebenslustig und widerspenstig, hat ein schnelles Mundwerk, flirtet am liebsten mit älteren Männern, ist beileibe nicht das Kind, das sich Doris gewünscht hat. Ihr knappes Hockey-Röckchen verbirgt sie unterm Regenmantel. Ihren Lippenstift wischt sie sich schnell im heimischen Gebüsch ab. Und dann wird Pat ermordet, will es scheinen, dass diesmal Staatsanwalt Curran Dinge, Indizien unter den Teppich kehrt.

Nicht chronologisch erzählt McNamee, er wechselt die Blickrichtung, er schaut um Ecken, in dunkelste Seelenwinkel. Fakten liegen auf dem Tisch (nach Tom McAlindons Taylor-Fall-Recherche, erschienen als „Bloodstains in Ulster“), trotzdem ist „Blau ist die Nacht“ kein Kriminalroman, in dem am Ende die Fäden sorgsam verknüpft werden. Und in dem der Autor sich für eine Auflösung entscheidet. Es könnte sein, dass die zunehmend verwirrte Doris ihre eigene Tochter erstochen hat: „Aber sobald sie Patricia ansah, war da dieser trübe betäubte Blick der Mörderinnen von Broadmoor“. Es könnte sein, dass Taylor Rache genommen hat am Staatsanwalt, der immerhin sein Möglichstes tat, ihn an den Galgen zu bringen.

Auch ohne Mord laufen in McNamees 50er-Jahre-Belfast schlimme geheime Handel ab. Es werden Strippen gezogen, Rücksichten genommen bei den Ermittlungen, Erpressungen angezettelt, Karrieren befördert oder ruiniert. Die Männer sind damit ausführlich beschäftigt. Die Frauen drehen inzwischen Zuhause durch oder verschaffen sich ein Ventil, machen sich schick, gehen aus, kommen spät nachts zurück – sollen sich die Nachbarn doch das Maul zerreißen.

Und schließlich entwickelt sich, was nüchtern beginnt, auch zu einer Art Gespenstergeschichte: Täter und Tote verfolgen Doris Curran. Sie spricht mit Thomas Cutbush, der im Verdacht stand, Jack the Ripper zu sein. Sie spricht mit Lucy aus Broadmoor – und was mag der geschehen sein, als sie Blumen holen wollte? McNamees Menschen tragen mehr Schatten mit sich, als sie bisweilen ertragen können.

Eoin McNamee: Blau ist die Nacht. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Runge. dtv, München 2016. 266 S., 16,90 Euro.

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