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„In Sardinien ist mein Wort meine Seele“

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Schriftstellerin Michela Murgia.
Schriftstellerin Michela Murgia. © imago/Leemage

Autorin Michela Murgia über Italiener und Sarden, über die Rolle der Schriftstellerin in der Welt und über ihren „Hausbesuch“ in Frankfurt.

Frau Murgia, Ihr KollegeJan Brandt sprach neulich im Frankfurter Literaturhaus über all die „verrückten Ideen“, auf die Veranstalter kommen, um Autoren zum Schreiben zu bringen. Sind die „Hausbesuche“ nicht auch ein bisschen verrückt?
Es ist gar nicht so verrückt, finde ich. Alle Geschichten kommen aus Erfahrungen. Ich habe gestern völlig unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlichen Alters kennengelernt. Einer kannte meine Bücher, ein anderer nicht. Einer war Italiener, einer war als Sohn von Italienern hier in Deutschland geboren worden, einer war Deutscher, ein anderer Deutscher hatte zwanzig Jahre in Italien gelebt. Sie kannten sich auch untereinander nicht. Wenn Sie das jetzt durchrühren und einen Autor dazutun, dann wissen Sie nicht, was passiert.

Sie haben nicht gezögert?
Gar nicht. Als das Goethe-Institut fragte, ob ich die einzige Italienerin bei dem Projekt sein möchte, habe ich lediglich gesagt, ich sei keine Italienerin, sondern Sardin.

Ach, das ist etwas anderes?
Das ist etwas völlig anderes, ein Widerspruch in sich selbst. Aber das Goethe-Institut erklärte, es sei genau auf der Suche nach seltsamen Leuten für ein seltsames Projekt. Also sagte ich ja. Es ist schließlich auch keine Verpflichtung dabei. Man muss nur diese Leute treffen und reden, worüber man will. Gestern ging es auch überhaupt nicht um mich und meine Arbeit, sondern um Politik, Grenzen, Europa. Wir blieben viel länger zusammen als geplant. Ein junger Mann, gerade mal 24, erzählte eine wunderbare Geschichte von seinem Großvater über Aldo Moro. Sie wissen, wer Aldo Moro ist …

Ein italienischer Politiker, der Ende der siebziger Jahre entführt und ermordet wurde …
Für den jungen Mann war das ungeheuer weit entfernte Geschichte, viel entfernter als für mich, die ich ein kleines Kind war, mich aber sehr für diese Dinge interessiere. Wir sprachen also über Aldo Moro und die Roten Brigaden, und er erzählte, dass sein Großvater in diesen Jahren schon hier in Deutschland arbeitete. Seine Großmutter konnte nicht lesen und schreiben, darum schickte der Großvater ihr Audiokassetten. Der Mann fand die Kassetten viele Jahre später und kam an eine Stelle, an der sein Großvater aufgeregt über die Aldo-Moro-Entführung spricht. Ein Zeugnis aus den Tagen, an denen diese Dinge tatsächlich geschehen sind. Mir bedeutet das viel. Kein Goethe-Institut konnte voraussehen, dass mir so etwas begegnen würde. Ein echtes Blind Date.

Ein Text, das wenigstens der Plan der Organisatoren, sollte allerdings daraus werden. Ist dann nicht auch automatisch Druck auf der Begegnung?
Nein, überhaupt nicht, das ist wirklich nicht mein Problem. Die Geschichten kommen zu mir. Ich konzentriere mich auf den Abend, den Wein, das Essen, die Menschen, der Rest geschieht von selbst. Und viel besser, als wenn man sich unter Druck setzt. I take it easy.

Sie interessieren sich für Geschichte in Ihren Geschichten, ging Ihnen darum die Aldo-Moro-Erinnerung so nahe?
Ich schreibe gar nicht so viele Geschichten, dafür aber sehr viel über Politik, über soziale Fragen. Unter meinen acht Büchern sind nur zwei Romane. Wissen Sie, die Situation gestern beim Abendessen war für mich viel normaler als vorne zu sitzen und die Dichterin zu sein. Ich bin viel unter Menschen und sehr neugierig.

In Deutschland kennt man Sie tatsächlich vor allem als Romanautorin, durch „Accobadora“ vor allem.
Das war mein zweiter Roman, der als erster ins Deutsche übersetzt wurde. Mein erster, der auf Deutsch „Camilla im Callcenterland“ heißt, ist eher eine Reportage, über die rechtlose Lage von Angestellten in einem Callcenter. Ich wurde zur Schriftstellerin als jemand, der über sein Land und seine Generation nachdachte und darüber schrieb, nicht im eigentlichen Sinne als jemand, der auf die Suche nach Geschichten geht.

Haben Ihre politischen Interessen etwas mit der Situation auf Sardinien zu tun, die Sie eine ganz besondere nennen?
Sardinien ist eine Insel, eine kleine Nation ohne Sprache. Sarden erkennen sich untereinander als Angehörige eines Volkes. Sie fühlen sich kolonialisiert. Sie haben das Gefühl, anders zu sein. Sardische Autoren sehen es als ihre Aufgabe an, dieses Anderssein in Literatur zu bringen und auf diese Weise zu vermitteln. Als Schriftsteller besetzen wir ja öffentlichen Raum. Und wir denken, dass wir in diesem öffentlichen Raum nicht nur unsere eigene Stimme hören lassen müssen, sondern auch die der anderen Sarden. Dafür steht uns nur eine Sprache zu Verfügung, die italienische. So leben wir in einem Widerspruch: Als Sarden zu denken, zu fühlen, zu lieben, aber kein schriftliches Ausdrucksmittel dafür zu haben.

Eine mündliche Sprache gibt es aber?
Jeder spricht Sardisch, keiner schreibt es.

Ein Dialekt?
Nein, eine Sprache. Der erste, der sie aufgeschrieben und untersucht hat, war übrigens ein Deutscher, Max Leopold Wagner, der im ausgehenden 19. Jahrhundert für Jahre in Sardinien lebte und ein Wörterbuch zusammenstellte. Er war es auch, der erkannte, dass die orale Tradition in Sardinien ein literarischen Korpus darstellt. Geschichten, Legenden, Dichtung. Wir geben dem Schriftlichen eine viel größere Bedeutung, als es verdient. Es gibt ein lateinisches Sprichwort, „verba volant, scripta manent“, Wörter vergehen, Schriftliches bleibt bestehen. In Sardinien gilt das nicht. Dort ist mein Wort meine Seele. Wenn ich Ihnen etwas versprochen habe, dann steht das felsenfest. Wenn Sie es schriftlich brauchen, misstrauen Sie mir. Dann kommen wir nicht zueinander. Das Mündliche ist also nicht fragil, es ist viel stabiler.

Das klingt gut, aber auch etwas ehrpusslig, oder? Was ist das für eine Gesellschaft auf Sardinien? Gut für Neuankömmlinge? Gut für Frauen?
Für Frauen ist Sardinien jedenfalls weit besser als Italien. Lange sind wir davon ausgegangen, dass das eine Art von Matriarchat ist, eigentlich ist es aber eher ein Matrizentrismus. Das ist eine andere Art, das Patriarchat zu organisieren. Die erste Bürgermeisterin Italiens gab es in Sardinien. Und schon Eleonora D’Arbolera war eine hochgeachtete mittelalterliche Regentin, sie spielt in unserem kollektiven Gedächtnis eine wichtige Rolle.

Ein modernes Beispiel?
Zwei Sprachen zu haben, bedeutet immer zwei Wörter zu haben. Das sind nicht nur Übersetzungen, das ist wirklich etwas anderes. Zum Beispiel: die Mutter. In Italien sagen sie: Es gibt nur eine Mama. In Sardinien stimmt das nicht. Wir gehen davon aus, dass überall eine weitere Mutter sein kann. Jeder kümmert sich auch um die Kinder der anderen. Wir haben zudem etwas, das wir „Filius de anima“ nennen.

Stimmt, darüber schreiben Sie in „Accobadora“.
Genau. Wenn ich den Sohn oder die Tochter eines anderen Menschen erkenne als Kind meiner Seele, kann ich ihn oder sie ansprechen und sagen: Kann ich eine Mutter deines Sohnes oder deiner Tochter werden? Ich habe vier Söhne auf diese Weise und bin auch selbst Tochter einer anderen, seit ich 17 bin. Was ich heute bin, bin ich auch durch diese Erfahrung. In Italien ist so etwas nicht möglich. Wenn Sie definieren, was eine Mutter ist, dann definieren Sie eine Gesellschaft.

Na ja, nicht überall, aber in Italien wohl schon.
Lassen Sie mich noch ein anderes Beispiel geben. Diesmal geht es um das Schweigen (überlegt lange, wie sie das auf Englisch erklären soll). Wenn Sie in Italien etwas von Ihren Freunden brauchen, dann fragen Sie. Wenn Sie in Sardinien eine solche Frage stellen müssen, dann ist bereits etwas schiefgelaufen.

Das klingt anstrengend.
Mein Mann ist Italiener, müssen Sie dazu wissen. Also: Wir wollen zu einer Lesung, bei der das Buch eines Freundes vorgestellt wird. Ich soll vorher ein paar Worte sagen und bin schon dort. Unser Nachbarn weiß, dass wir hinfahren werden. Er ruft meinen Mann an und fragt ihn, ob er zur Buchvorstellung geht. Mein Mann, der Italiener, versteht ihn nicht. Er sagt: Aber ja, wir fahren hin, es ist auch schon ein bisschen spät, sorry, ich muss los. Am nächsten Tag frage ich meinen Nachbarn, warum er nicht mitgekommen ist. Antonio sagt: Ich habe deinen Mann angerufen und ihn gefragt, ob ich mit ihm kommen kann, aber er hat nein gesagt. Ich sage zu meinem Mann: Wie kannst du nein sagen, wenn Antonio von dir mitgenommen werden will? Er sagt: Aber ich habe nicht nein gesagt, er hat doch gar nicht gefragt. Merken Sie’s? Sie müssen in Sardinien nicht fragen, Sie müssen verstehen. Ein sehr respektvoller Umgang miteinander, würde ich sagen. Niemand soll in Verlegenheit gebracht werden, sich verpflichtet fühlen. Mein Mann hätte sagen müssen: Aber ja, wir fahren hin, willst du nicht mitfahren? Antonio muss dann sagen: Nicht doch, ich will dir nicht zur Last fallen. Mein Mann muss sagen: Aber ich bitte dich, es wäre mir so eine Freude. Und dann Antonio: Okay, eigentlich hatte ich gar nicht vor zu kommen, aber wenn es dir so wichtig ist, mache ich das natürlich dir zuliebe gerne.

Die höhere Schule.
Ja, Sie drehen die Perspektive um. Der Bittsteller wird zu dem gemacht, der dem anderen einen Gefallen tut.

Das hat auch mit Stolz zu tun.
Jeder kann seinen Stolz wahren, das stimmt.

Wie ist es, wenn Fremde kommen, jetzt zum Beispiel Flüchtlinge?
Die Flüchtlinge wollen nicht bleiben, Sardinien ist kein Ziel, es ist eine Insel, noch dazu die falsche Insel. Tatsächlich bräuchten wir Flüchtlinge, die bleiben wollen, der Geburtenrückgang ist so stark. Wir bräuchten Bauern und Schäfer, Leute, die sich um das brachliegende Land kümmern, aber wer möchte heute noch so leben?

Sie schreiben auch für Sardinien, sagen Sie. Haben Schriftsteller Pflichten?
Nein. Jeder Autor tut, was er tun will. Ich versuche, den Menschen von Sardinien eine Stimme zu geben, in Sardinien ist das so. Das gilt aber nicht für jeden.

Sie haben einen politischen Blick auf die Dinge, wie schätzen Sie die Situation im Italien nach Berlusconi insgesamt ein?
Italien ist ein untergehendes Land. Darum wollen die Flüchtlinge nicht bleiben. Das sind Menschen, die ärmer sind als wir, die fürchterliche Probleme haben, aber selbst sie spüren, dass das hier ein Land ohne Zukunft ist. Sie wollen in ein Land mit Zukunft. Das kann ich verstehen.

Aber warum ist Italien ohne Zukunft?
Es liegt jedenfalls nicht nur an Berlusconi. Es liegt daran, wie Italiener denken und handeln und ticken. Zusammen mit Portugal ist Italien das geburtenschwächste Land Europas. Das hängt nicht nur mit dem Geld zusammen.

Womit sonst?
Es ist eine Frage des Horizonts. Ich will Kindern doch eine Zukunft geben. Stattdessen ist Italien auf einem Weg, auf dem es einfach ausschließlich bergab geht. Nur noch 14 Prozent haben hier einen akademischen Abschluss. Wir stecken zu wenig Geld in Bildung. Generationen von unqualifizierten Arbeitskräften wachsen heran. Im Weltvergleich sind wir in etwa bei Indien, wo es aber bergauf geht. 2050 sind wir ein Land von unqualifizierten Arbeitssuchenden, nichtlesenden Neuanalphabeten und Nichtwählern. Was soll aus uns werden, wenn sich immer mehr im Land nicht als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Mein Land stirbt.

Sie selbst wirken wie das Gegenteil von allem, was Sie da beschreiben.
Mein Mann und ich diskutieren jeden Tag, ob wir nicht doch auswandern sollen, aber wir schaffen es nicht.

Interview: Judith von Sternburg

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