Mit sanfter Trauer

Michael Angele hat den letzten Zeitungsleser ausfindig gemacht und ein melancholisches Buch darüber geschrieben.
Von Philipp Fritz
Sie werden das kennen: Sie gehen in ein Café, bevor Sie die Bestellung aufgeben, schauen Sie jedoch erst mal, ob Ihre Tageszeitung vorhanden ist. Sie lesen den Leitartikel, regen sich kurz über den Autor auf, kultiviert, nicht zu lang, dann kommt eine große Reportage, ein wenig Verkehr noch, das Wetter. Mehr soll es heute nicht sein, Sie nippen an Ihrer Kaffeetasse, schauen aus dem Fenster, sehen die Menschen vorbeiziehen und fühlen sich, trotz allem, recht wohlig.
Vielleicht verstehen Sie jetzt aber auch nicht so recht, vielleicht lesen Sie diesen Text gerade online. Zeitung? Braucht doch niemand, werden Sie dann vielleicht sagen (und nicht weiter darüber nachdenken, dass jedenfalls diese Internetseite ohne das dazugehörige Printprodukt nicht existieren würde). Dass es beim Zeitunglesen um viel mehr geht als um bloße Informationsbeschaffung, dass es sich um eine Kulturtechnik handelt, ja einen Lebensstil, der langsam verschwindet, das beschreibt Michael Angele in seinem Büchlein „Der letzte Zeitungsleser“. Er tut es liebevoll.
Angele, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“ und ehemaliges Mitglied der Chefredaktion der Netzeitung, lässt immer wieder den österreichischen Autor Thomas Bernhard auftauchen und spinnt ausgehend von dessen Leidenschaft für das Zeitunglesen seine eigenen Gedanken.
Angeblich, so beginnt der „Letzte Zeitungsleser“, wollte Bernhard während der Salzburger Festspiele einmal unbedingt einen Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ lesen, hatte diese aber nicht zur Hand. Er fuhr also von seinem Wohnort Ohlsdorf über Salzburg und Bad Reichenhall bis nach Steyer, die NZZ war schwer zu bekommen.
Was tut man nicht alles für die Beschaffung seines Blatts! Ein solches Verhalten ist heute beinahe undenkbar, Internetnachrichten können schließlich überall abgerufen werden. Aber das ist nicht das gleiche, ein anderes Lesen ist es sowieso, und zumeist führen die schier unendlichen Möglichkeiten des Netzes nur zu einer thematischen Verengung. Solch kulturpessimistische Auslassungen lesen sich in Angeles essayistischen Ausführungen selten – zum Glück.
Ohne Zynismus, mit sanfter Trauer beschreibt er, wie ein Freund im Urlaub stolz seine Zeitung in der Hosentasche trägt, sowieso braucht es im Urlaub die Zeitung vom Vortag, sonst ist es kein Urlaub. Wer trägt schon stolz sein Smartphone mit sich? Was dem Leser von Nachrichten aus seinem Feed auf Facebook abhanden kommt, ist das „Andere“, der Gegensatz, er schwimmt bloß noch in seiner eigenen Soße. Das Internet verstärkt eine soziale Tendenz, die es schon immer gab: Wir suchen uns diejenigen, die uns ähneln.
Angele erzählt, wie Mitglieder der 68er-Generation die FAZ lasen: Wegen ihres Feindbilds interessierte sie insbesondere der Wirtschaftsteil. Daraus erwuchs über die Jahre eine Bindung an das Blatt, bis heute soll es Altlinke geben, die auf bestimmte Autoren der FAZ nichts kommen lassen.
Es sind Geschichten wie diese, darunter der sonntägliche Zeitungskauf und die Lektüre mit der Familie am Esstisch, die in der „Letzte Zeitungsleser“ beschrieben werden. Einige Ehen wären ohne eine Zeitung sicher anders verlaufen. Es wäre bedauerlich, wenn es zu Ende ginge.
Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser. Galiani, Berlin 2016. 160 S., 16 Euro.