Salman Rushdie „Victory City“: Die Stadt der Worte

Salman Rushdies Roman „Victory City“ ist ein Wunderwerk der Erzählkunst – und macht klar, dass Aufklärung und Vernunft ohne Spiel weder aufgeklärt noch vernünftig sein können
Heute erscheint die deutsche Ausgabe von Salman Rushdies Roman „Victory City“. Ein Wunderwerk. Rushdie erklärt, es sei doch ganz gut, dass das Buch eines 75-Jährigen sich so jung und vital anfühle. Noch bewundernswerter als das ist die Freiheit, die souveräne Überlegenheit, mit der er alle Register zieht. Er springt durch Zeiten und Stile, spielt mit allem und jedem. Es ist nicht nur eine Lust, ihm durch seine Geschichte des süd-indischen Königreiches Vijayanagara (14.–16. Jahrhundert) zu folgen, sondern man ist auch hingerissen von den immer neuen Volten seiner Erzählung (siehe auch FR vom 7. März, „Die Verzauberung der Welt“).
Rushdie bettet die „wahre“ Geschichte des Königreiches Vijayanagara ein in von ihm und – das ist der Eindruck beim Lesen – von Jahrhunderten weltweiter Erzähltraditionen imaginierte Geschichten von Heimaten und Fremden. Ein Silvesterfeuerwerk an Einfällen, bei dem zwischen den aufschießenden Raketen leise Töne der Liebe und fast noch leisere der geheimen Intrigen zu hören sind. Es gibt keinen Klang, den Rushdie nicht erzeugt, und keinen Winkel unserer Gefühle, in die er nicht – und sei es nur für einen Moment – Licht bringt.
Das ist Aufklärung. Nicht der emporgestreckte Zeigefinger des Lehrers Lämpel. Vernünftig ist die Vernunft erst, wenn sie auch mit sich zu spielen beginnt. Rushdie ist Weißclown und Dummer August zugleich („Wer weiß denn sowas?“, eine der erfolgreichsten Quizsendungen des deutschen Fernsehens, lebt vom Konflikt dieser beiden Figuren.) Er ist aber auch der Bändiger von Löwen und Tigern, von Raum und Zeit.
Letzteres gehört ja zum Kerngeschäft des Erzählers. In einem Interview („Die Zeit“ vom 13. April) berichtet Rushdie davon, dass er zur Zeit damit beschäftigt sei, über die Messerattacke auf ihn vom vergangenen August zu schreiben. „Ich versuche gerade herauszufinden, wie ein Text darüber aussehen könnte, ob das funktioniert. Ich stehe wirklich noch ganz am Anfang mit diesem Vorhaben.“
Wir sagen oft, wenn wir etwas erzählen wollen: Ich habe keine Worte dafür. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Autoren und Autorinnen, behaupte ich, geht es nicht anders. Sie werden genauso überwältigt von dem Knäuel unterschiedlichster einander widersprechender Gefühle. Aber sie wollen die Sache nicht schnell auf einen Begriff bringen. Sie nehmen sich Zeit und Raum, erzählen nicht eine, sondern womöglich viele Geschichten, hübsch oder auch weniger hübsch nacheinander über viele Seiten hinweg. So kann es passieren, dass beim Lesen im Kopf eben jenes überwältigende Knäuel entsteht, das einen denken lässt: So ist es. Das ist die Welt, wie ich sie kenne und niemals begreifen werde.
Es gibt sehr unterschiedliche Wege, dieses Ziel zu erreichen. Rushdie setzt ganze Orchester dafür ein, erfindet Figuren, Instrumente und Konstellationen hinzu. Er gehört zu denen, die nicht über das schreiben, was sie kennen. Er schreibt über das, was er nicht kennt. Seine Romane, aber auch seine Essays sind Schiffe, die wir besteigen, um mit ihm auf Entdeckungsreise zu gehen. Aber sie sind auch Fußmärsche und Flugzeuge. Wir wechseln mit ihm die Geschwindigkeiten, mit denen wir Raum und Zeit durchqueren.
Noch einmal zurück zu Rushdies Arbeit an dem Text über den Messeranschlag auf ihn. Er hat alles mitbekommen, verlor das Bewusstsein erst, als der Anästhesist es ihm nahm. Er könnte den Vorgang ganz kühl beschreiben. Ohne Adjektive. Ohne den Rausch der Assoziationen, den es sicher gab, im Text aufzurühren. Er könnte aber auch – wie es den Figuren in „Victory City“ immer wieder geschieht – sich wiedererkennen in anderen, die es vor ihm gab oder die in anderen Geschichten als seiner eigenen eine Rolle spielten. Das wäre dann ein Roman, in dem der Held seine eigene Geschichte durch das Spiegelkabinett vieler Vergangenheiten führt und sich auch lustig machen kann über sich und seine Wichtigkeit. Noch das abgeschlagene Haupt des Orpheus soll weiter gesungen haben. Wie lange?
Das Buch:
Salman Rushdie: Victory City. Roman. A. d. Engl. v. Bernhard Robben. Penguin, München 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
„Victory City“ behauptet von sich, es sei ein Roman, der als eine Art „Reader’s Digest“ das „Jayaparajaya“, ein Epos von Pampa Kampana, zusammenfasse, das länger sei als das „Mahabharata“, das zehnmal so lang sei wie „Ilias“ und „Odyssee“ zusammen.
Dieses Epos gibt es natürlich so wenig wie keine der indischen Literaturen eine Pampa Kampana kennt. Das Epos wäre freilich eine „Selberlebensbeschreibung“. Eine Schöpferin, die die Geschichte ihrer Schöpfung sicherheitshalber selbst aufgeschrieben hat. „Wort des lebendigen Gottes.“ Rushdies Amüsement ist ansteckend. Die Freiheit, die Rushdie uns vorlebt, sich aus allem zu bedienen, was die Weltgeschichte uns zur Verfügung stellt, ist ein wohltätiges Virus. Es mag uns zum Spotten verführen, aber es bewahrt uns auch davor zu verhöhnen. Zu sehr hängt alles mit allem zusammen. Wir sind mittendrin, und immer wieder haben wir Angst, vom Ganzen erdrosselt zu werden. Rushdie zeigt uns, wie wir dieser Angst stets aufs Neue entgegenkommen müssen, um ihr zu entkommen. Das Fremde, das uns zu verschlingen droht, wir können es uns einverleiben, zu einem Stück von uns machen.
Sie erinnern sich, was man Ihnen beibrachte, wie man mit gefährlich hohen Wellen umgeht? Man muss hinabtauchen in sie. So sehe ich Salman Rushdie schwimmen im Ozean der Erzählungsströme. Immer wieder taucht er auf und zeigt uns, was er mitgebracht hat aus uns unbekannten Tiefen. Da draußen und in uns.
Am Ende von „Victory City“ kommt die Dichterin Pampa Kampana zu Wort. Sie wird sterben. Sie singt weiter. Sie wird es tun über ihren Tod hinaus. Der Erzähler, der Verfasser des „Reader’s Digest“, leitet das in den Worten des Übersetzers Bernhard Robben so ein: „Nachdem das Jayaparajaya versteckt war, setzte Pampa Kampana sich im Schneidersitz auf den Boden und rief: ,Ich habe zu Ende erzählt. Erlöst mich.‘ Dann wartete sie. Dies wissen wir, weil sie auf den letzten Seiten festhielt, was sie zu tun beabsichtigte.“
Der Erzähler will das Unwahrscheinliche plausibel machen. Schon die frühe Bibelkritik hatte Anstoß daran genommen, dass Moses über seinen eigenen Tod berichtet haben sollte. Diesem Einwand begegnet der sich hier ganz realistisch gebende Romanautor, der sonst gerne auch die verrücktesten Episoden wiedergibt. Aber der Tod ist denn doch eine unhintergehbare Schranke. Und nun gar der Tod des Autors, der Autorin. Aber gerade der wird besiegt werden.
„Sie wurde zweihundertsiebenundvierzig Jahre alt. So lauten ihre letzten Worte: ‚Ich, Pampa Kampana, bin die Verfasserin dieses Buches. Ich habe gelebt und sah ein Reich aufsteigen und untergehen. Wie wird man sich künftig an sie erinnern, an diese Könige, diese Königinnen? Sie existieren nur noch in Worten. Während die Königinnen und Könige lebten, waren sie Sieger oder Besiegte oder beides. Jetzt sind sie weder noch. Worte sind die einzigen Sieger. Was sie taten, dachten, fühlten, gibt es nicht mehr. Es bleiben nur meine Worte, die dies beschreiben. Man wird sich an sie erinnern, wie ich sie beschrieben habe. Von ihren Taten wird man allein wissen, was hier davon festgehalten wurde. Sie werden die Bedeutung haben, die ich ihnen zu geben wünschte. Ich selbst werde nun auch zu nichts. Was bleibt, ist die Stadt der Worte. Worte sind die einzigen Sieger.‘“