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Sabrina Janesch: „Sibir“: Als die Krähen in der Luft erfroren

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Von: Cornelia Geissler

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Sabrina Janesch.
Sabrina Janesch. © Frank Zauritz

Sabrina Janesch zeigt in ihrem Roman „Sibir“ auf begeisternde Weise, wie das Erinnern über die Generationen möglich ist.

Sein Leben lang setzte sich ihr Vater gegen die Geister der Vergangenheit zur Wehr, sagt Leila, die Erzählerin in Sabrina Janeschs Roman „Sibir“. Sie wird von der Mutter in den Ort ihrer Kindheit zurückgebeten, wo der Vater von fortschreitender Demenz benebelt ist und Stimmen hört. Er bereue, alles verbrannt zu haben von damals. „Das hat er anscheinend nicht vergessen: dass er vergessen wollte.“

Erinnerung, sprich: Die Weltliteratur lebt von Gedankenreisen zurück dahin, wo die Prägung ihre Stempel setzte, die Kindheitsmuster entstanden. Das Suchen und Graben nach der Vergangenheit braucht eine Sprache, dem ungünstigen Umstand zu Leibe zu rücken, den Uwe Johnson in seinen „Jahrestagen“ so fasst: „Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt.“

Sabrina Janeschs Roman ist ein neues, herausragendes Beispiel, wie man Geschichte erzählen kann. Ein Beispiel dafür, wie es möglich ist, die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts durch ihre Spuren in den Denkweisen, Handlungsentscheidungen, Wünschen und Träumen von Menschen darzustellen. „Sibir“, mit einem aus dem Wasser auftauchendem Hecht auf dem Buchumschlag illustriert, führt auf so lebendige, soghafte Weise in die dunklen Tiefen einer Familie, dass der Roman lange in den Köpfen bleiben dürfte.

Die Erzählerin in „Sibir“ begibt sich also zunächst zum Vater, um mit ihm den Wald der Erinnerung zu lichten. Dieser Josef Ambacher ist wie der Vater der Autorin selbst als Kind aus dem sogenannten Warthegau im Güterwagen nach Sibirien verschleppt worden. Das war kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Das polnische, nach dem Überfall der Wehrmacht dem Deutschen Reich einverleibte Gebiet gehörte nun wieder zu Polen. Die Sowjetunion holte sich aus dieser deutschen Bevölkerung Arbeitskräfte. „Natürlich habe er damals, als Kind, kaum die Ungeheuerlichkeit der Lage erfassen können: dass es sich bei ihnen, den Deutschen, für alle anderen zwangsläufig um Faschisten handeln musste, ehemals blutrünstiges, nun aber auf den Hund gekommenes Gesindel, das gerädert, gevierteilt, gestraft werden sollte für das, was Hitler über die Welt gebracht hatte.“

Im Winter wird es in der Verbannung so kalt, dass Bäume nachts mit lauten Knall platzen. Und die im Flug erfrorenen Krähen sammelt Josef ein, seine Tante kocht sie. Aber so entbehrungsreich die Verhältnisse sind, hat er doch auch ein Leben gelebt dort, geht zur Schule, hat einen Freund. Den Verlust der eigenen Mutter in den Wirren des Transports verkraftet er nur, indem er sich sagt, sie habe einen besseren Weg gefunden.

Das Buch

Sabrina Janesch: Sibir. Roman. Rowohlt Berlin, 2023. 350 Seiten, 24 Euro.

Nach Deutschland schließlich kommt seine Familie in einer von Adenauer und Chruschtschow ausgehandelten „Heimkehr der Zehntausend“, zusammen mit Kriegsgefangenen. Im Roman landen sie im fiktiven Ort Mühlheide in Niedersachsen. Josef fühlt sich wieder fremd, doch sein Großvater versucht ihn auf die Spur nach vorn zu setzen: „In der Vergangenheit liegt nichts Gutes für dich.“ Das passte zur Bundesrepublik der 50er Jahre, und auch in der DDR sang man ja: „Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut.“

Leila aber schaut zurück. Sie legt Schichten aus der eigenen Kindheit frei, etwa zu jener Zeit, als neue Flüchtlinge aus Russland kommen. „Noch Jahre und Jahrzehnte später war ich damit beschäftigt, die Teile des Puzzles, das die Jahre 1990 und 1991 bildeten, zusammenzuklauben.“ Hat Leila sich und ihre Familie eben noch in der Siedlung in der Außenseiterrolle gesehen, verschiebt sich diese Stellung nun. Ihre „Östlichkeit“ ist für die Ankömmlinge auf eine „ewig beleidigte Art und Weise deutsch“. Ihr Vater zeigt sich den Fremden gegenüber offen, mit der selbst doppelt erlebten Fremdheit im Sinn – als Kind in Sibirien, als junger Mann in der Bundesrepublik.

Sabrina Janesch betrachtet aus der Perspektive der Tochter die Erfahrungen des Vaters und hält das Gerüst der historischen Verhältnisse dabei im Untergrund. Zwar haben die politischen Vorgänge die Lebenswege der Menschen des Romans bestimmt. Doch können sie auf diesen ihre eigene Entscheidungen treffen, die Augen verschließen oder sich verantwortlich zeigen. Die scheinbare Wiederholung von Ereignissen durch die Ankunft der Spätaussiedler ausgerechnet dort, wo die einst Verschleppten sich eingerichtet haben, gibt auch die Chance, Fragen an die Geschichte zu stellen.

Sabrina Janesch verknüpft diese Zeiten durch die Jugend – der des Vaters und des Mädchens. Und sie konfrontiert Josef Ambacher mit einer Schuld, die er glaubt, als Junge auf sich geladen zu haben.

Die Struktur des Buches mag in der Wiedergabe kompliziert klingen. Die Autorin aber durchdringt die Zeitebenen geschmeidig. Ihre Erzählerin übernimmt empathisch die Perspektive des Vaters, als habe sie die Zeiten selbst erlebt. Sie vermag die Farben, Geräusche, Temperaturen, all die Empfindungen zu reproduzieren, sie lebendig zu machen. „Sibir“ ist ein begeisternder Roman über die Bedeutung von Erinnerung.

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