"Rufst du mich Montag oder Dienstag an?"

Peter Handke erhält als Erster den "Siegfried Unseld Preis" / Laudatio von Ulla Unseld-Berkéwicz
In dem Film Der letzte Samurai wird erzählt, dass Japan Mitte des 19. Jahrhunderts werden wollte wie der Westen, seine eigenen Werte vergaß, sie sogar bekämpfte, sich, schon weitgehend verdorben, besann, weil es sah, dass einer, der nicht aus seinem Kulturkreis kam, die Werte Japans erkannt hatte, bereit, sein Leben dafür zu leben und zu geben.
Samurai heißt nicht nur Kämpfer, Krieger, heißt auch Diener, und die sieben Leitsätze des Samurai, ins westliche Verständnis übersetzt, könnten lauten: Selbstsein ist Bedingung, Stolz ist Waffe, Treue ist Unschuld, "Warum" ist Tabu, Aufklärung ist Störung, Erklärung ist Kitsch, Meinung ist Lüge.
Mitten im Krieg - ich meine nicht den mit dem Hass und der Gewalt, ich meine den gegen den Schmäh und den Schmonzes - versucht Peter Handke den Wiederherstellungszauber, versucht er die Dunkelheit zu spalten, damit sie ihr eigenes Licht abgibt, auf dass wir die Gegenstände überleben, auf dass dem an Seele und Wesen Verarmten das Herz überm Kopf zusammenschlage, auf dass er begreife: Ich bin nicht nur von dieser Welt, denn sie genügt mir nicht, mich zu erklären.
Das Sanskritwort kavi bezeichnet die untrennbare Doppelbedeutung des Sehers der Wahrheit und des Dichters. Die Rishis waren die Dichterseher des Rig Veda, der ältesten überlieferten Schriften der Menschheit. Bei ihnen heißt es: "Ohne Mühe bewegt sich eine Welt in der anderen." Und darin stimmen sie mit Kabbalisten und Talmudisten überein, die das Universum durch zwei einander durchdringende Dreiecke darstellen. Unser Bewusstsein ist von Bewusstseinsformen ganz und gar anderer Art umgeben und vielleicht nur durch hauchdünne Wände von ihnen getrennt. Wir können durchs Leben gehen, ohne zu ahnen, was davor und was dahinter steckt. Oder wir beten, singen, tanzen, spielen, malen, schreiben, öffnen diese Wände, mit spitzgespitztem Stift und auf linierten oder unlinierten weißen Bögen.
Gott, sagen die Tarahumara-Priester Artauds, verschwindet sofort, wenn man ihn zu sehr berührt. Doch dort, wo Gott beginnt, endet die Sprache, die ihn nur streift und die ihn übersetzt in Poesie aus Vers und Prosa.
Schriftsteller sind nicht beruhigend
Mitten im Krieg - ich meine nicht den gegen den Schmäh und den Schmonzes, ich meine den mit dem Hass und der Gewalt -, der ein lange nicht gekanntes "Angstfeuer", wie Meister Böhme das nennt, entfacht hat, der Religionäre und Rationalisten mit ihren Ölkannen aufmarschieren lässt, um Strahl um Strahl Öl ins Feuer zu gießen, fordert einer, der gegen den Materiestrom zu schwimmen wagt, die Wut der orthodoxen Atheisten genauso heraus wie vormals die Gottesleugner den Zorn der orthodoxen Kirche. Begibt sich so ein Letzter auf den Todesstreifen der öffentlichen Meinung, gewappnet mit dem Leitsatz: "Die bösen Fakten festhalten ist schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten."
"Bitte, wo steht geschrieben, dass ein Schriftsteller beruhigend sein muss! Ist es seine Aufgabe, harmlos zu sein, unproblematisch, dämpfend, schmerzlindernd? Nein, meine Damen und Herren, wir vergessen, was ein Schriftsteller ist und tut, wenn er seine Aufgabe wahr- und ernstnimmt. Schriftsteller sind Experimentatoren, sie sind Forscher, ihr Anliegen ist das Aufspüren nicht beruhigender, sondern gefährlicher Substanzen", sagte Siegfried Unseld 1996 im Frankfurter Schauspielhaus in seiner Einführung zur Lesung Peter Handkes aus seinem Buch Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Murava und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Und sagte weiter: "Warum ich persönlich so alarmiert bin, ist, weil Kritiker, also öffentliche Intellektuelle, nicht mehr verstehen, was ein Autor tut, wenn er gefährliche Ansichten mit gefährlichen Gegenständen in Verbindung setzt." Und Siegfried Unseld beschließt seine Einführung mit den Worten: "Für mich ist dieser Text so, wie Handke es formuliert hat: ?Mein Text ist Wort für Wort ein Friedenstext.'"
Und Handke sagt: "Der Schriftsteller ist alles, konservativ und anarchistisch, ein Mensch der Form und des Unförmigen. Noch schöner, wenn er nichts ist."
Lieber Peter, in Zeit mit Siegfried Unseld (ohne Zeitwörter), Deinen Erinnerungen aus dem Jahr 2003, beschreibst du dich bei deiner ersten Begegnung mit ihm im August 1965 in Frankfurt als "übernächtig", ihn als "übermächtig". Diese Begegnung herbeigeführt hatte ein Brief vom 10. August 1965 zu Die Hornissen, der dem "Sehr geehrten Herrn Handke" nach Altenmarkt den klassischen Satz schrieb: "Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir nach genauer Lektüre Ihres Manuskriptes uns entschieden haben, Ihre Arbeit in den Suhrkamp Verlag zu übernehmen (...) Nun scheint mir freilich ein Gespräch über Einzelheiten erforderlich zu sein. Führt Sie Ihr Weg ohnehin einmal nach Frankfurt?" Worauf der Angeschriebene dem "Herrn Doktor" antwortete: "Die Ehre für mein Manuskript, die ihm geschieht, indem es in Ihrem Verlag erscheint, freut mich so, dass das Ereignis mir noch jetzt nicht ganz geheuer ist."
Schon kurz darauf wart ihr zum Du übergegangen, und Siegfried Unseld schrieb am 12. Dezember 1967: "Ich habe an Deinem 25. Geburtstag doch sehr herzlich an Dich gedacht. Was hast Du noch vor Dir! Ich habe ja demgegenüber einen Teil der Wegstrecke doch schon hinter mich gebracht. (...) Den ?Kaspar' habe ich jetzt gelesen. Dazu nur meinen Glückwunsch. Ich hoffe, wir können bald darüber sprechen."
Von Eurem gemeinsamen Gehen ist für Dich die Frage geblieben, ob Siegfried Unseld für solche Bewegungsart gemacht sei. Ihm war dieses gemeinsame Gehen lieb, und so schrieb er am 9. Juni 1972 von der Klettenbergstraße aus nach Kronberg: "Bist Du im Lande? Ich werde das Wochenende nicht in Frankfurt sein, bin aber ab Montag wieder da und hätte gerne mit Dir wieder gesprochen. Am Dienstagabend bin ich mit Marie Luise Kaschnitz und Ror Wolf zum Abendessen verabredet; möchtest Du dazukommen? Wir gingen bei schönem Wetter etwas im Taunus spazieren und würden dann irgendwo abends in einem Dorfgasthaus essen. Rufst Du mich Montag oder Dienstag an?"
Seine Stimme im Ohr
Zwischendrin, und dieses Zwischendrin verstehe ich als kurze Augenblicke, vorübergehende Momente, gab es dann das, was Du "Verlegerbrief" und Siegfried Unseld "Autorenbrief" nannte, den Vorwurf zum Beispiel, der Verleger würde sich nicht für Die Stunde der wahren Empfindung interessieren, und dessen Antwort, er fühle sich "schmerzhaft ungerecht" behandelt. Über den November 1978 in New York, Euer Zusammentreffen, als Du, wie ich zu wissen glaube, beim Niederschreiben der Langsamen Heimkehr Umstürzendes erfuhrst, berichtest Du von der "Witterung" Siegfried Unselds, der "Witterung des Unheils: Der Autor am Verlorengehen".
Siegfried Unseld hielt von dieser Begegnung fest: "Er empfängt mich, und sieht fast verwandelt aus, jünger, schlanker, irgendwie vergeistigter, sein mönchisches Leben ist evident. Sein erster Satz, nun sei er schon den 36. Tag hier. (...) Er schriebe täglich zehn Stunden, dann ginge er aus, aber er träfe und spräche kaum mit jemandem, ich sei in diesen 36 Tagen nun der fünfte Mensch, der mit ihm ausging. (...) Abends essen wir im ?Carlyle' - Anzug mit Schlips und Weste. Ihn interessiert im Moment nichts, was um ihn herum vorgeht, selbst nicht die 300 Selbstmörder in Guyana."
Wenige Jahre später, in deiner Salzburger Zeit dann, mehrmals einer jener Momente, die für Siegfried Unseld so wichtig waren: Er übergab das erste Exemplar des jeweils neuen Buches. "Gegen 10.30 Uhr war ich in Salzburg und spazierte über den Mönchsberg zur Festung, alle die Wege, die Andreas Loser in ?Der Chinese des Schmerzes' auch gegangen ist. Pünktlich um 13 Uhr kam Handke. (...) Wir gingen gleich zum Essen und als der Wein, Kremser Kögl, aufgetragen war, übergab ich ihm das erste Exemplar seines Buches. (...) Er hörte es sich genau an, als ich ihm sagte, dass ich dies doch für sein bestes Buch hielte."
1990 dann, am 1. September, du hattest nach deiner Reise um die Welt in einem Jahr gerade dein Haus in Chaville gefunden, besuchten wir dich zum ersten Mal als Ehepaar. Der Versuch über die Jukebox war kurz zuvor erschienen, und in der Besuchsankündigung heißt es: "Also, bis zum 1. September. Wir werden dann den 28. August schon überstanden haben."
Und so könnte ich von solchen Begebenheiten immer weiter berichten und müsste doch irgendwann auf den 12. August 2002 zu sprechen kommen, als du Siegfried Unseld zum letzten Mal getroffen hast in der Klettenbergstraße zum Abendessen. Du hast unter der Überschrift "2003" in deinen Sätzen über ihn festgehalten: "Immer noch seine Stimme im Ohr, zeitweise sie auch am Telefon, bei dessen Läuten unwillkürlich erwartend."
Vielleicht habe ich dir, und den Anwesenden, seine Stimme wieder zu Gehör bringen können. Die Stimme des Freundes und Verlegers seines Autors, der heute mit dem ersten "Siegfried Unseld Preis" ausgezeichnet wird.