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In Romika-Schuhen zur Ponderosa

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Kleben am Detail: Gerhard Henschel unternimmt eine Zeitreise in die sechziger Jahre seiner Kindheit

Keine Frage, die sechziger Jahre waren eine kuriose Zeit. Wer sie, vorzugsweise als Kind oder Jugendlicher, miterlebt hat, weiß sofort, wovon bei Henschels Kindheitsroman die Rede ist. Er wird sich bei der Lektüre ein ums andere Mal erinnert fühlen an seine eigene Kindheit, als alles plötzlich sehr ernst und schwer sein konnte, als es aber, etwa in Gestalt der beiden verfügbaren Fernsehsender, auch probate Erheiterungsmittel gab. Es war eine Zeit, da Werbung noch Staunen auslöste und bei weitem kein Ärgernis war, im Gegenteil: ein Antidot, eine kleine Witzfabrik.

Und das eigene Zuhause war eben nicht nur eine Phalanx gegen den Russen, gegen Sozis, Hippies und Gammler, sondern auch tauglich für kleinere Fluchten ins Gemütlich-Biedere wohlfeiler Unterhaltung - ARD und ZDF waren eine Art öffentlich-rechtlicher Therapiespender. Zwischen Dralon mit Kräuselvelours, Romikaschuhen und Jod-S-11-Körnchen (damit bloß der Wellensittich nicht an der hundsgemeinen Schilddrüsenvergrößerung krepierte), gestaltete sich eine TV-Reklame-und-Serien-Welt, in der sich nolens volens der Horizont ihrer Zuschauer spiegelte. Bonanza, Weißer Riese, Nimm-2, Kosakenkaffee, alles ist in Afri-Cola und damit auch in den Wohnstuben.

Der nicht einmal zehnjährige Martin Schlosser saugt den ganzen Quatsch auf wie ein Schwamm. Seine Sozialisation in frühen Jahren ist schwer fernsehgeprägt, er ist quasi auf TV-Droge - auch wenn es hier natürlich nicht nur um die Glotze geht; im zweiten Teil, den frühen siebziger Jahren, verlagern sich Martins Interessen zum Fußball hin, da kann man an langen Ergebnislisten und Spielanalysen nachlesen, wie es um seine damalige Lieblingsmannschaft bestellt war.

Was Henschel hier unternimmt, ist eine Art Doku-Soap mit satirischem Unterton. Bei den Schlossers ist Ordnung deutlich mehr als nur das halbe Leben, selbstredend befinden wir uns vor irgendwelchen prekären pädagogischen Unternehmungen à la Summerhill oder Laisser-Faire. Hier hat alles noch seinen Sinn und Stellenwert, auch wenn sich die elterliche Erziehung - bei Licht betrachtet - eher als ein Kuddelmuddel aus lancierten Mythen, Halbwahrheiten, Abzählreimen und Kalendersprüchen erweist. Gezeigt wird eine pseudofeste Welt der Moral und der Gebote.

Konsequent legt Henschel eine kindliche Sicht auf die Dinge, wohinter die kleinbürgerliche Familie in ihren Strukturen anfänglich nur schemenhaft erkennbar ist. Klar ist: Familie Schlosser führt irgendwo im Koblenzer Raum ein absolut durchschnittliches kleinbürgerliches Leben. Das äußere Geschehen ist aufgrund der im Fokus stehenden Erfahrungswelt des Jungen stark reduziert; man erfährt zwar einiges über diverse Besuche in Jever bei Großmutter und Tante, später auch vom Umzug der sechsköpfigen Familie von der Kleinwohnung in ein eigenes Haus, auch von einem Austauschbesuch aus England und einer Autoreise nach Spanien ist die Rede. Für Martin sind das aber allenfalls Randerscheinungen; er zeichnet seine präpubertären Nöte sowie die unsägliche Enge und Spießigkeit seines Elternhauses mit all ihren Normen und Regularien immer dann auf, wenn sie in Erscheinung treten, sprich: jederzeit und überall. Er wird damit, ungewollt im Grunde, zum akribischen Chronisten eines gnadenlosen Ordnungsschematismus. Henschels Anspruch ist dabei auffallend totalisierend: Sein Held darf kein Detail auslassen. Da freilich liegt ein wenig auch das Problem dieses Buches.

Es zeigt sich, dass Henschels multiple Belege für diese hochgradig neurotische Zeit im Vergleich zu ähnlichen Werken (etwa zum Großen Grover-Buch Andreas Mands) heute kaum noch komisch wirken. Eher selten schmunzelt man über das abgelaufene Verfallsdatum früherer Bedeutungsschwere. Das mag auch daran liegen, dass diese Epoche durch eine ganze Reihe ähnlicher romanesker Entwürfe mittlerweile zu gut ausgeleuchtet ist. Was Henschel sehr gut aufzeigt, ist die unhintergehbare familiäre Beschränktheit, das absolute Nichtvorhandensein von Fantasie und Kreativität. Doch genau dieser gezeigte Mangel an Lebendigkeit vermag einen auf Dauer fast auch ein wenig zu deprimieren.

Der Details sind es auf jeden Fall zu viele. Sosehr man darüber staunen kann, was er aus der Epoche alles memorieren kann, wie außergewöhnlich präzise seine Gedächtnisleistung ist, auch, wie sehr sich TV-Reklame oder Serien mit ihren mediokren Protagonisten ins Bewusstsein einschreiben konnten, sosehr gerät diese Detailversessenheit zur Falle. Die Aneinanderreihung der zahllosen Spots, das Zitieren altbekannter Binsenwahrheiten - das Ganze stets in kleinen Abschnitten vorgetragen, ansonsten aber ohne großen inhaltlichen Gestaltungswillen versehen - geht mit radikaler Plotreduzierung einher: der "Kindheitsroman" ist in Wahrheit gar kein Roman, sondern ein mnemotechnisch durchgeführter Parforce-Ritt über die Rahmenbedingungen - und nur darüber - eines jungen Lebens in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren; die erzählte Geschichte flackert von vorneherein prekär auf kleinster Flamme.

Hinzu kommt, dass Henschel die Diktion des kleinen Jungen mit all ihren grammatikalischen, syntaktischen oder stilistischen Unzulänglichkeiten ("Bei der roten Autokiste im Kinderzimmer war das Lenkrad ab") anscheinend bewusst eingesetzt hat, um sowohl Echtzeit als auch Echtheit zu suggerieren. Als Häppchen, als kleine Geschichte geht das natürlich in Ordnung; 500 Seiten Kindersprech ermüden aber auch jemanden, der "selbst dabei war".

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