Roman von Buchi Emecheta: Adahs Raum

Überfällige Wiederentdeckung: Fast ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des Originals, bringt Blumenbar eine Neuübersetzung des Romans „Second-Class Citizen“ von Buchi Emecheta heraus.
Fünfhundert Pfund im Jahr und ein eigenes Zimmer: Diese Mindestbedingungen für die Möglichkeit weiblichen Schreibens hielt Virginia Woolf 1929 in ihrem Essay „Ein Zimmer für sich allein“ fest. Jahrzehnte später macht sich im England der 60er Jahre eine aus dem soeben unabhängig gewordenen Nigeria nach London migrierte Frau daran, ihren Traum vom Schreiben zu verwirklichen. Fünfhundert Pfund hatte sie mit Sicherheit nicht für sich selbst. Und ihr Zimmer teilt die damals gerade Anfang 20-Jährige mit drei, vier, schließlich fünf Kindern und einem gewalttätigen Ehemann, der ihr erstes, in Schulhefte geschriebenes Romanmanuskript im Ofen verbrennt, derweil sie allein das Geld für die Familie verdient.
Nicht lange danach wird sie ihren Mann endlich verlassen, wird neu-, wird weiterschreiben. Adah heißt die junge Frau, die sich schon als Kind nicht von ihrem Weg abbringen ließ; als Achtjährige war sie in Lagos in die Schule ihres jüngeren Bruders marschiert und hatte dem Lehrer ins Gesicht gesagt: „Ich bin zur Schule gekommen – meine Eltern wollen das nicht“ (schließlich war sie „nur ein Mädchen“).
Und Adah ist offenkundig ein Alter Ego der Autorin Buchi Emecheta, die ihren im Original 1974 erschienenen Roman „Second-Class Citizen“ ihren fünf Kindern gewidmet hat, „ohne deren liebenswerte Hintergrundgeräusche dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können“.
Man muss das so klar benennen, weil man die Größe dieser Adah, die Bedeutung von „Second-Class Citizen“ und der vorausgegangenen und nachfolgenden Romane Buchi Emechetas, kaum ermessen kann, ohne sich die im Buch gespiegelten Entstehungsbedingungen voller Ehrfurcht vor Augen zu führen.
Fast fünfzig Jahre später ist nun eine Neuübersetzung von Emechetas Roman erschienen. Eine überfällige Wiederentdeckung: Die in den Achtzigern gebündelt mit ihrem Debüt „Im Sumpf“ („In the Ditch“) als „Die Geschichte der Adah“ verlegte deutsche Erstausgabe ist längst nur noch antiquarisch erhältlich. Beim Tod der Schriftstellerin, von Booker-Preisträgerin Bernadine Evaristo als „Urmutter der Schwarzen feministischen Literatur“ bewundert, war es 2017 hierzulande erstaunlich still im Feuilleton. Das kann sicher gleichermaßen als Symptom weißer Ignoranz gelesen werden, wie auch als Ausdruck der systematischen Verkennung der Relevanz weiblichen Schreibens – nicht von ungefähr wurden Emechetas Romane in der deutschen Erstausgabe noch der Rubrik „Frauen & Literatur“ zugeordnet. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Neuübersetzungen von Emechetas Werken folgen werden. Auch die dieser Tage in den Herbstvorschauen angekündigte neue Reihe „Wiederendeckte Schätze des 20. Jahrhunderts“ von Magda Birkmann und Nicole Seifert bei Rowohlt dürfte dazu beitragen, verkannten oder vergessenen Autorinnen die Bühne zu bereiten, die ihnen gebührt.
Dass auch Chimamanda Ngozi Adichie und Sharon Dodua Otoo auf dem Buchrücken ihre Bewunderung für Emechetas Werk ausdrücken, zeigt jedenfalls deutlich, wie prägend deren Werk insbesondere für Generationen Schwarzer Autorinnen war und bleibt. Man liegt vielleicht auch nicht falsch, wenn man die „Ada“ aus Otoos Ingeborg-Bachmann-preisgekrönter Kurzgeschichte „Herr Gröttrup setzt sich hin“, die später in ihrem Debütroman „Adas Raum“ wiederkehrte, als Hommage an Emecheta interpretiert.
In „Second-Class Citizen“ ist es wörtlich „Adahs Traum“ von Bildung, vom Schreiben, der sich schon auf den ersten Seiten äußert und im Laufe der Handlung raumgreifender wird. In klarer, schnörkelloser Sprache formuliert, entfaltet der in Adahs Kindheit in Nigeria einsetzende Roman vor allem mit ihrer per Schiff nach Großbritannien erfolgten Migration eine große Dringlichkeit. Trotz der sich zuspitzenden prekären Lebenssituation, häuslicher Gewalt und rassistischer wie sexistischer Erniedrigungen, lässt Emecheta ihre Protagonistin nicht gebückt und gebeutelt durchs Leben gehen. Sie gibt ihr Rückgrat, einen erstaunlich pragmatischen Überlebenswillen, ja, auch Humor mit an die Hand – und benennt manches, was ihr widerfährt, durch die Kraft der Auslassung („Was folgte, ist zu schrecklich, um gedruckt zu werden“).
Die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Marion Kraft, die auch das für die Schwarze deutsche Bewegung so prägende Werk der US-Amerikanerin Audre Lorde oder die Gedichte Amanda Gormans ins Deutsche übertrug, zeigt dabei ein genaues Gespür für einen gleichermaßen zeitgemäßen wie den Kontext der Entstehungszeit berücksichtigenden Umgang mit dem Originaltext. Das zeigt sich beispielhaft darin, wann sie welche Selbstbezeichnungen und wann sie (rassistische) Fremdbezeichnungen als passende Entsprechungen wählt.
Der beibehaltene Originaltitel bezieht sich auf die im Roman mehrfach benannte und von Erfahrungen der Protagonistin gedeckte Empfindung, als Schwarzer Mensch im Großbritannien dieser Zeit sowie als Mädchen und Frau in der nigerianischen Gesellschaft (und Community in London) und in ihrer Ehe eine Bürgerin zweiter Klasse zu sein. Der Ton ist ein anderer, Zeit und Raum ebenfalls – und doch drängen sich in der Art und Weise, wie Schreiben zur widerständigen und selbstbehauptenden Handlung gegen eine gewaltvolle Ehe wird, Parallelen auf zum ein halbes Jahrhundert später geschriebenen, ebenfalls autofiktionalen Roman „Schläge“ der Inderin Meena Kandasamy (Culturbooks 2020).
Aus heutiger Sicht ebenfalls bemerkenswert ist, wie Emecheta bereits in den frühen 70ern spezifische Themen der (post-)kolonialen Einwanderungsgesellschaft Großbritanniens behandelt – etwa die seit den 50er Jahren verbreitete Praxis des „Farming“, in deren Zuge tausende Kinder in weißen Pflegefamilien aufwuchsen – in jüngerer Zeit haben einige der damals in Pflege gegebenen Kinder ihre teils traumatischen Erfahrungen künstlerisch verarbeitet, so der Regisseur Shola Amoo im Film „The Last Tree“ (2019) oder Adewale Akinnuoye-Agbaje ein Jahr zuvor mit „Farming“.