Ein Roman ist sich selbst genug

Auch wer ruiniert ist, berät sich noch in der Oyster Bar des Grand Central: Cynthia D’Aprix Sweeneys treffsichere Satire „Das Nest“ über New Yorker Mittelschichtsneurosen.
Von Sacha Verna
Wäre Cynthia D’Aprix Sweeney Leo Tolstoi, würden sich sämtliche Protagonisten in „Das Nest“ am Schluss unter den Zug werfen. Wäre sie Jonathan Franzen, hätten sie bis dahin alles, was schief läuft in der modernen Gesellschaft, in privatem Rahmen durchexerziert und noch schlechtere Laune als am Anfang. Da die 55-jährige Cynthia D’Aprix Sweeney aber sie selber ist und dies ihr Debüt, gönnt sie ihren Akteuren nach 400 Seiten beinahe so etwas wie ein Happyend.
Als „Nest“ bezeichnen die Geschwister Melody, Jack, Bea und Leo Plumb den Fonds, den ihr verstorbener Vater für sie eingerichtet hat. Ausbezahlt werden soll die Erbschaft, sobald die Jüngste der vier, Melody, vierzig wird. Als es endlich soweit ist, entpuppt sich das, was eben noch ein goldenes Straußenei war, allerdings als Wachtelei. Zukunftspläne lösen sich in Luft auf (die College-Gebühren für die Kinder!). Die Gegenwart wird prekär (Hypotheken, verschuldete Geschäfte, brotlose Jobs!). Alte Ressentiments brechen hervor.
In einem filmreifen Prolog zeigt Cynthia D’Aprix Sweeney, wer an der Dezimierung der Plumb’schen Vorsorge Schuld ist. Leo, der Lebemann und erfolgreichste aller Plumbs, schleppt eine junge mexikanische Kellnerin von einer Edelparty auf Long Island ab, baut einen Autounfall und braucht dann Millionen, um der besagten Kellnerin, die nun einen Fuß weniger, aber praktischerweise keine Arbeitsbewilligung hat, zum Schweigen zu bringen. Dieses Malheur nehmen seine Nächsten Leo erwartungsgemäß übel.
Geld und Familie bilden eine bewährte Kombination für Tragödien und Komödien. Cynthia D’Aprix Sweeney hat sich für eine heitere Satire entschieden. Aufs Korn nimmt sie dabei einen bestimmten Typus der gebildeten Mittelschicht, der seine Privilegien für selbstverständlich hält und sein Leben in Erwartung dessen verbringt, was ihm wirklich zusteht, nämlich mehr. Mehr Glück, mehr Liebe, mehr Glück in der Liebe, mehr Immobilien.
Immobilien sind wichtig. In New York, wo „Das Nest“ spielt, sind sie praktisch alles – Dauerthema, Dauerproblem und begehrteste aller Daueranlagen. Entsprechend obsessiv beschäftigen sich die Plumbs mit ihren und den Behausungen anderer. In New York ebenfalls von Bedeutung ist Klatsch. Leo hat mit einer Klatsch-Website sein Vermögen gemacht (wovon zumindest der deklarierte Teil für eine kostspielige Bald-Ex-Ehefrau draufgegangen ist). Bea sieht sich als Schriftstellerin, zumal als eine, der es seit zwanzig Jahren an Inspiration fehlt, täglich dem Geschwätz anderer gewesener und gerade aktueller Glitteraten ausgesetzt.
Kein Geld zu haben erweist sich in „Das Nest“ als relativer Zustand. Nur wenige, die am Hungertuch nagen, treffen sich zwecks familiärer Aussprache zum Mittagessen in der Oyster Bar des Grand Central.
Wohl um den sozialen und intellektuellen Kosmos ihrer Figuren wenigstens ein bisschen zu erweitern, führt Cynthia D’Aprix Sweeney in Nebenplots Mitglieder anderer Gruppen ein. Die bereits erwähnte Kellnerin, einen versehrten (Irak- und/oder Afghanistan-)Veteranen, einen Feuerwehrmann – sie alle sind den verwöhnten Plumbs in moralischer Hinsicht überlegen. Im Sinn ausgleichender Gerechtigkeit wird diesen Statisten deshalb schließlich auch mehr Zufriedenheit beschieden.
Cynthia D’Aprix Sweeney ist eine selbstsichere Autorin. Sie erzählt aus wechselnden Perspektiven, aber mit einer Stimme. Damit signalisiert sie dem Leser: Vertrau mir, ich habe die Sache im Griff. Und das hat sie. Sie hält die diversen Handlungsfäden straff. Sie versteht sich auf perfekt geschnittene Szenen. Und sie weiß, dass für die Plumbs und ihresgleichen eine etwas diffuse liberale Gesinnung – Jack ist homosexuell, eine von Melodys Zwillingen erweist sich als lesbisch, alles in Ordnung – ebenso als Statussymbol gilt wie ein Wochenendabonnement der „New York Times“.
Dennoch wirkt „Das Nest“ am Ende wie ein Insiderwitz mit Universalanspruch. Der Witz ist gut, der Anspruch bleibt unerfüllt. Es geht zwar um Allgemeinmenschlichkeiten wie Loyalität, Selbst- und Enttäuschungen und ums Erwachsenwerden von Erwachsenen. Aber dieser Roman reicht nie über sich selber hinaus. In der Witzig- und Winzigkeit des Milieus, das Cynthia D’Aprix Sweeney schildert, schnurrt auch das Existenzerklärungspotenzial dieser Geschichte zusammen.
„Das Nest“ ist Jonathan Franzen ultra-light. Tolstois Anna Karenina liegt nicht unter dem Zug, sondern sitzt darin und fährt zuversichtlich in Richtung neuer Morgen. Cynthia D’Aprix Sweeney hat einen gefälligen New Yorker Neurosen-Roman geschrieben. Es würde an plumbe Vermessenheit grenzen, stattdessen ein Erste-Klasse-Ticket um die Welt zu verlangen.
Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest. Roman. A. d. Engl. von N. von Schweder-Schreiner. Klett-Cotta 2016. 410 S., 19,95 Euro.