Riku Onda „Die Oasawa-Morde“: Die Bedeutung der Kräuselmyrte

Riku Ondas furios mit der Wahrnehmung spielender Kriminalroman „Die Aosawa Morde“
Auf das schreckliche Geschehen selbst, auf das qualvolle Sterben einer ganzen Familie (fast einer ganzen Familie, doch dazu später mehr), dazu einiger ihrer Gäste, öffnet die japanische Schriftstellerin Riku Onda nur einen schmalen Spalt. Sie ist zwar keineswegs die erste, die einen Kriminalroman aus einer Vielzahl von Blickwinkeln, mit einer Vielzahl von Stimmen erzählt, aber sie tut das mit außergewöhnlichem Abstand, den man als eine Art von Diskretion wahrnimmt (eine japanische Diskretion?).
Dieser Abstand ergibt sich aus der Form, aus vielfältigen Brechungen, Spiegelungen, Berichten aus zweiter oder gar dritter Hand. Erzählerinnen und Erzähler, zum Beispiel ein Nachbarskind, zum Beispiel die Tochter einer Haushaltshilfe, auch eine Polizistin, waren im entscheidenden Moment nicht vor Ort – im prächtigen Haus der Aosawas –, waren nur am Rande beteiligt oder vor Schreck gar nicht in der Lage, Details aufzunehmen.
Auch antworten sie Jahre später auf die Fragen einer jungen Frau, die „in der Grundschule“ war, als die „Aosawa-Morde“ geschahen. Jetzt recherchiert Makiko Saiga (in einer Rahmenhandlung, die auch nicht wirklich eine Rahmenhandlung ist) für ein Buch, spricht mit möglichst vielen Menschen, die noch etwas über das grausame Geschehen wissen. Und rechtfertigt Titel – „Das vergessene Fest“ – und schillernde Form, denn beides nahmen ihr Menschen übel, die nur die Fakten lesen wollten. „Tatsachenroman? Das Wort gefällt mir nicht. Egal wie sehr man sich an die Wahrheit halten will, da schreiben immer noch Menschen, also kann es keine ,Tatsachenromane‘ geben. Das Einzige, was es gibt, ist eine Fiktion dessen, was man sehen kann.“ Mit ihrer Figur Makiko Saiga denkt Riku Onda über das nach, was sie hier tut – aber auch dabei ist sie diskret, unaufdringlich.
Die Morde geschehen auf einem Fest, die großbürgerliche Familie Aosawa hat eingeladen. Ein junger Mann, angeblich von einem Freund des Hausherrn geschickt, liefert vergifteten Sake, vergiftete Erfrischungsgetränke. Siebzehn Menschen sterben durch Zyanid; die einzige der Familie, die nichts trinkt und überlebt, ist die blinde Tochter Hisako. Ein Kriminalpolizist (auch er gehört zu den Stimmen/Erzählern) verdächtigt zwar diese schöne, seltsam kalte junge Frau, aber es gibt kein Indiz, keine Spur – und wie hätte sie das machen sollen? Da nimmt sich ein junger Mann das Leben, hinterlässt einen Abschiedsbrief. Aber war er vielleicht nur der Ausführende?
Das Buch:
Riku Onda: Die Aosawa-Morde. A. d. Japan. von Nora Bartels. Atrium, Zürich 2022. 368 S., 22 Euro.
„Porträt eines Geistes“ ist eines der Kapitel von „Aosawa-Morde“ überschrieben. Es erzählt von der Faszination des möglicherweise psychisch kranken jungen Mannes für eine verstaubte Bildrolle, die im Schaufenster eines Soba-Nudelladens hängt. Der Mann auf dem gemalten Bild ist auf unangenehme Weise eigenartig, er hat ein drittes Auge auf der Stirn. „Kinder flüsterten sich zu, dass es im Dunkeln leuchten oder Leute, die allein vorbeigingen, beobachten würde.“ Ein Schreibwarenhändler wiederum beobachtet den jungen Mann dabei, wie er oft lange auf der Straße vor dem Nudelladen steht, das Bild anstarrt, manchmal murmelt.
Menschen blicken auf Menschen. Und rätseln. Mutmaßen. Erzählen ihre Mutmaßungen wiederum einem anderen Menschen. Könnte Hisako, die Anmutige mit den scharfen Instinkten einer Blinden, tatsächlich hinter den Morden stehen, hinter diesem Giftanschlag, mit dem „der menschliche Verstand nicht umgehen kann“? Und was ist mit dem Papier, auf dem zwei Adressen gestanden sein sollen, die des Freundes von Herrn Aosawa und die der Familie, und das dann ja wohl ein Lieferauftrag war?
Eine Zeitlang jagt der Kriminalpolizist jedem Schnipsel hinterher, irgendwann erscheint es ihm zwingend, dass der junge Mann den Zettel in eines seiner Bücher gelegt hat (denn nie hat man ihn ohne Buch gesehen) – wie verdächtig ist es also, dass ausgerechnet das Antiquariat abgebrannt ist, in dem wahrscheinlich seine Bücher gelandet sind.
So fügt sich scheinbar ein Puzzlestückchen zum anderen – und dann kommt ein Windstoß (ein anderer Vorschlag, wie es gewesen sein könnte) und bläst sie wieder auseinander, die zarten Teilchen. „Die Aosawa-Morde“ bietet keine Gewissheiten an, allenfalls verdichten sich zum Ende hin ein paar Wahrscheinlichkeiten. Dies ist kein Whodunit, vielmehr eine intrikate Häkelarbeit, durch die sich Leitmotive wie verschiedenfarbige Fäden ziehen. Und wenn man bisweilen denkt, dass Riku Onda jetzt aber doch sehr abschweift, kehrt sie zurück zu einem dieser Fäden.
Fein gesponnen wie der Inhalt ist auch die Sprache. Vieles könnte genau so von jemandem auf Band gesprochen sein. Das Kapitel „Aus der Aktenmappe“ enthält lakonische Zeitungsmeldungen und Polizeiprotokolle. Dann wieder wird das Kleine, Alltägliche poetisch aufgeladen, liegt Bedeutung und Bildmacht in einer Geste, einem Blick, einem weißblühenden Kräuselmyrtenbaum. Dass selbst eine Pflanze, eben eine Kräuselmyrte, nicht unwichtig ist im Lauf der Dinge, das erscheint hier keineswegs weit hergeholt.