Wie ein riesiger, gieriger Mund

Delphine de Vigans bewegender Roman "Tage ohne Hunger " berichtet von Menschen, die an Magersucht leiden.
Eigentlich war es nur die Kälte, die sie dazu brachte, ins Krankenhaus zu gehen. Diese alles durchdringende Kälte, die weder Wollstrumpfhosen, noch Rollkragenpullover, noch ein Platz direkt an der Heizung vertreiben konnten. „Die Kälte sagte ihr, dass sie zwischen Leben und Sterben wählen musste.“
Wer 36 Kilo wiegt bei einer Größe von 1,75 Metern kann nichts tun, damit es endlich wieder warm wird – außer zuzunehmen. Laure ist 19 Jahre alt und leidet an Magersucht. „So konnte sie nicht weitermachen, vor allem wegen der Kälte, aber auch wegen der Müdigkeit. Sie ist erschöpft. Jetzt weiß sie, dass man unter einer solchen Last nicht leben kann.“ An der Schwelle zum Tod entscheidet sie sich, in die Klinik zu gehen.
Delphine de Vigan, ein neuer Star der französischen Literaturszene, hat ihren Roman „Tage ohne Hunger“ bereits 2001 unter dem Pseudonym Lou Delvig geschrieben. Nun ist er auch auf Deutsch erschienen. Und wie ihre anderen Romane hat auch dieser stark autobiografische Züge.
Und so ehrlich, offen, ja schonungslos kann vermutlich nur über diese heimtückische Krankheit schreiben, wer sie selbst erlebt hat. Drei Monate begleitet sie ihre Hauptfigur, drei Monate in der ernährungsmedizinischen Abteilung, in der es „Solche-die-zu-viel-fressen, Solche-die-sich-erbrechen, Solche-die-nicht-mehr-schlucken-können“ gibt. Alles dreht sich immer nur ums Essen. Laure wird durch eine Sonde ernährt. Und sie wird kontinuierlich zunehmen. Was die Ärzte als Fortschritt feiern, ist für Laure ein einziger Kampf.
Magersucht ist für Außenstehende schwer zu begreifen. Wie kann man es schön finden, „wie eine auseinandergebogene Büroklammer, wie ein Drahtbügel aus der Reinigung, wie eine Fernsehantenne nach einem Unwetter“ auszusehen? Laure führt Buch, beobachtet die anderen Patienten, ihren behutsamen, aber beharrlichen Arzt und vor allem sich selbst sehr genau. Sie versucht zu ergründen, wie es passieren konnte, dass sie in die Klauen der Krankheit geriet.
Auch hier zeigen sich Parallelen zum Leben der Schriftstellerin: Laure erzählt von dem Zusammenleben mit der psychisch kranken Mutter, die sterben wollte, als Laure klein war, die mit Lippenstift an den Badezimmerspiegel schrieb: „Ich schaffe es nicht mehr lange“. Und Laure und ihre Schwester Louise putzten sich wochenlang „mit dem Tod ihrer Mutter quer über dem Gesicht die Zähne“. Die Mutter kam später in eine geschlossene Abteilung der Psychiatrie. Der Vater ist cholerisch, sagt ihr, sie sei ansteckend, habe schon genug Unheil angerichtet.
Und trotz dieser traumatischen Erlebnisse fühlte Laure einen unbändigen Lebenshunger: „Sie war wie ein riesiger gieriger Mund, der alles verschlingen wollte, sie wollte schnell und intensiv leben, sie wollte, dass man sie auf den Tod liebte, sie wollte diese Wunde der Kindheit heilen, diese nie gefüllte klaffende Wunde schließen.“ Doch es fühlte sich so an, als lieferte sie dieser Wunsch der ganzen Welt als Beute aus. Und so handelte sie: „Sie hatte diesen wahnsinnigen Lebenswillen, dieses absurde, ausgehungerte Streben geknebelt, sie hatte sich Entbehrungen auferlegt, um dieses Übermaß an Seele zu kontrollieren, sie leerte ihren Körper von diesem anstößigen Begehren, das sie auffraß und zum Schweigen gebracht werden musste.“
Magersucht kann viele Ursachen haben und es wäre wohl vermessen zu behaupten, dass man durch „Tage ohne Hunger“ versteht, was Menschen so weit bringt. Doch so nah ist man als Unbetroffener dieser Krankheit selten gekommen. Es ist ein anstrengender, schmerzhafter, fordernder Roman. Doch wenn Laure das Ende des Krankenhausaufenthalts fürchtet – „Sie klammert sich an diese Krankheit als einzige mögliche Lebensweise. Sie hat keine andere Identität“ –, dann begreift man plötzlich, warum sie Angst vor dem Gesundwerden hat.