Reclam: Was bedeutet das alles? - Hausapotheke kritischen Denkens

Klassiker und moderne Essayisten: Die brillant edierte Reclam-Reihe „Was bedeutet das alles?“ bietet günstig viele Denkanstöße in kompakter Form
Selten, sehr selten kann ein Kritiker diesen Satz schreiben: „Sie können aus dieser Reihe getrost jedes Buch kaufen.“ Er gilt für „Was bedeutet das alles?“ unumschränkt. Die Essays aus dem Reclam-Verlag sind so gut ausgewählt und lektoriert, dass sie nahezu süchtig machen. Maximal 100 Seiten im Kleinformat kosten immer sechs Euro. Mit weniger Risiko kann sich niemand auf einen kleinen, feinen intellektuellen Anstoß einlassen. „Was bedeutet das alles?“ ist die bunte Weiterentwicklung demokratischer Volksbildung, für die der Verlag mit den gelben Bändchen seit 151 Jahren Generationen von Schülern durch den Unterricht begleitet hat.
2012 fügte der Ditzinger Verlag seinen monochrom leuchtenden Reclam-Heften neue Farben hinzu – wörtlich. Friedrich Forssman ist einer der bekanntesten Buchgestalter Deutschlands. Der in Kassel lebende Typograph hat 2008 der Universalbibliothek ein etwas frischeres Aussehen verpasst. Für diese Reihe hat er 2012 eine augenfällige Idee entwickelt. Vordergründig erinnert die Fassade der Hefte an das Museum Brandhorst in München und setzt sich mit seinen bunten Strichen im Verkaufsregal deutlich ab von der Gestaltung der sonstigen Schullektüre des Verlages. Im Titel versteckt ist ein Osterei des Gestalters: Die Striche sind der technische Barcode des Heftes, treffsicher koloriert.
Die Entwicklung jeder Serie braucht etwas Reifezeit. 2012 gegründet, war das Profil noch nicht so klar wie heute. Klassiker wie Immanuel Kant („Denken wagen“), Plutarch („Arbeiten im Alter“) oder diverse kleinere Schriften von Seneca hätte der geübte Leser im Verlagsprogramm vermutet und ja, vielleicht auch mal gekauft und wiedergelesen. Aufhorchen ließ die Auswahl aber, als die Edition auch bei den Vordenkern eine immer klarere Richtung gewann: Henry David Thoreaus Schrift mit dem Titel „Ziviler Ungehorsam“ liegt in neuer Übersetzung vor. Ein Mahnmal für die Beschränkung des Staates und der Stärkung subsidiärer Kräfte.
Zwei Bände ragen bei den Klassikern heraus: Hannah Arendts Essay „Wir Flüchtlinge“ aus dem Jahr 1943 (Deutsch seit 1986) zielt ins Herz der aktuellen literarischen Debatte. Der jüdische Flüchtling Herr Cohn assimiliert sich vollständig der neuen Gesellschaft – und bleibt doch heimatlos, hin- und hergetrieben zwischen Herkunft und Nichtankommen.
Eine Preziose ist auch Glenn Goulds „Freiheit und Musik“. Der Ausnahmepianist hat erstaunlich wenig exzentrisch, dafür umso klüger über die Kunst und ihre Verbreitung und Rezeption in den Medien geschrieben. Sein „Rat an eine Abschlussklasse“ etwa liest sich wie ein Manifest des Apple-Revolutionärs Steve Jobs („stay weird“, „bleibe ungewöhnlich“) und reflektiert ebenso vorwegnehmend wie klug, wie wir mit Massenmedien umgehen und darin unsere individuelle Meinung bilden und bewahren können – fast eine Anleitung für die Generation Youtube.
Unverwechselbares Format gewinnt „Was bedeutet das alles?“ als Bibliothek zeitgenössischer und inzwischen auch weniger bekannter Autoren. Schon der namensgebende erste Band der Reihe des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel deutet darauf hin. „Was bedeutet das alles?“ ist Programm.
Als „very short introduction to philosophy“ für die Studenten im Erstsemester konzipiert, befriedigt Nagels Text in einem unterhaltsam-tiefsinnigen Frage-Antwort-Spiel das Bedürfnis einer Generation, deren Tages-Denkablauf in kleine Teile zerlegt ist und die dennoch die Sehnsucht bewahrt hat, zwischen dem 200-mal-pro-Tag-aufs-Handy-Schauen trotzdem Zusammenhänge zu verstehen. Übrigens dürfen auch alle anderen den Band lesen und werden lachen und manches neu sehen.
Klare Konturen als kritisches Kompendium geben der Reihe zwei Autoren. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering zerlegt in seiner (im Buch erweiterten) Rede „Was heißt hier ‚wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ die Sprache der als Demokraten getarnten Faschisten. Mit dem Skalpell der Sprachkritik geht er der Frage nach, welche Anmaßung es bedeutet, für „das Volk“ sprechen zu wollen. Brillant und erschreckend zugleich.
Dem hält Geert Keil, Präsident der Gesellschaft für analytische Philosophie, sein Modell entgegen: „Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit“. Keil gibt nicht nur in 90 Seiten eine Kurzzusammenfassung über die Theorien der Wahrheit, er hilft auch dabei, mit Verschwörungstheoretikern oder von sich allzu überzeugten Wissenschaftlern zu diskutieren. Gegen ideologische Faktengläubigkeit hilft nur das stete Infragestellen von allem, auch der eigenen Überzeugungen: „Durch Sorgfalt, Scharfsinn, Vorurteilsfreiheit (…) verringern wir das Irrtumsrisiko, können es aber nicht ausschalten.“
Den Durchbruch der öffentlichen Aufmerksamkeit hat die Reihe mit dem herausragenden Essay von Thomas Bauer erreicht. „Die Vereindeutigung der Welt“ sollte jeder gelesen haben. Der Arabist an der Universität Münster hat eine fundamentale Verteidigung der Ambiguität geschrieben. Er stellt einer Welt der fundamentalistischen Eindeutigkeit und der kapitalistisch-maschinellen Optimierung den Wert einer assoziationszugewandten Kultur der Schönheit und Offenheit entgegen. Das Buch führt nicht nur die Liste der meistverkauften Bände der Reihe an. Völlig zu Recht hat Thomas Bauer dafür auch den mit 25 000 Euro dotierten Tractactus-Preis des Philosophicums Lech als bestes Sachbuch erhalten.
Eigentlich müsste man jeden Band der Reihe hier vorstellen und loben, aber lesen Sie selbst. Jede Ausgabe von „Was bedeutet das alles?“ füllt die Hausapotheke des kritischen Denkens und stärkt als schnelle Hilfe die Resilienz gegen Eindimensionalität.