Quer durch den Mais
Im Strudel der Unsicherheit: Kathrin Gerlofs Gegenwarts-Roman "Nenn mich November".
In Berlin war es nicht mehr auszuhalten. Marthe und David scheiterten dabei, nach Kündigungen und Firmengründung wieder auf die Beine zu kommen. Der Geldautomat zog die Karte ein, der Besitz schrumpfte aufs Unverkäufliche und Nicht-Pfändbare zusammen. Weil David in einem Dorf ein altes Haus geerbt hatte, konnten sie dahin umziehen. Von diesem Neubeginn handelt der Roman „Nenn mich November“ von Kathrin Gerlof.
Neu muss nicht gut heißen. Es ist kein optimistisches Buch. Aber es ist ein Buch, das mit seiner zuweilen irritierend assoziationsreichen Sprache, mit dem Blick aus dem Dorf in die Welt eine intensive Beteiligung des Lesers erreicht. Man kann nicht unberührt bleiben davon, nicht nur wegen der erzählten Schicksale, sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie Gerlof schreibt.
Sie beginnt groß, indem sie den Handlungsort auf dichten viereinhalb Seiten wie eine Endstation errichtet. „Im Dorf gibt es kein Begehren mehr.“ Nur die Hunde treiben es noch miteinander. „Das ganze Dorf ist von Maiswüsten umgeben“, schreibt sie da auch, erzählt erst später, wie das kam: Nach dem Ende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR haben sich zwei Bauern dort das Land unter den Nagel gerissen und brach liegen lassen, bis die EU-Förderung kam. „Das Dorf würde nicht mehr lange existieren. Es gehört einer aussterbenden Spezies an. Unfruchtbarkeit, Unlust und Inzucht besiegeln sein Schicksal.“ Denn wer weg konnte, hat es längst verlassen.
Marthe Lindenblatt heißt die Hauptfigur. Als Kind schon mochte sie den Namen nicht: „Sie wollte November. Nenn mich November. Heißen. Das ist der Monat, der am besten zu ihr passt.“ Kathrin Gerlof bricht manchmal die Sätze auf. Oder sie lässt Wörter weg, die man sowieso beim Lesen mitdenkt: „Die Ehe hat gehalten, obwohl sie noch so jung waren, als sie zum Standesamt.“ Andere sind kurz und eindeutig: „Ich hasse Mais.“ „Ich hasse Bankmenschen.“ Die Verunsicherung ihrer Heldin gestaltet Gerlof mit einem gewagten, doch starken Bild: Marthe scheint es, als würde ihr ein Arm abhandenkommen.
Im Verlauf des Romans kommt die Autorin immer wieder auch ins Erzählen, mit langen Sätzen, mit großen Bögen über die Kapitel hinweg, mit Details über Marthes und Davids Weg, über Kinder, Kollegen, den besten Freund Konstantin, einen Computerspiele-Fan und IT-Experten. Zu ihm hält Marthe Kontakt, steigt mit ihrem Laptop auf einen Hügel, weil dort der Internet-Empfang am besten ist. Da gelangt aus den Nachrichten auch das Elend der Welt zu ihr.
Im Dorf verschwinden Männer. Deren Frauen treffen sich in einer Verkaufsstelle, wo sie die Fremde abweisend grüßen. Es werden andere Fremde kommen: Flüchtlinge, für die der Großbauer Schulz die ehemaligen Zwangsarbeiter-Baracken herrichtet. Wie stark Marthe nach ein paar Monaten wieder im Leben verankert ist, wird deutlich an der Unruhe, die nun um sie her ausbricht.
Unterdessen wird David sprachlos. Er beginnt an Gleisen entlangzulaufen, die er im Mais gefunden hat. Da deutet sich an, welchen literarischen Bruder Gerlof für ihre Figur gesucht hat. Sein Wegdriften lässt an einen großen Roman denken, 1959 im frisch geteilten Deutschland angesiedelt: Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“. In einem November verschwand Jakob Abs, der immer quer über die Gleise gegangen ist.
Kathrin Gerlof erzählt in „Nenn mich November“ von Menschen, denen die Bodenhaftung genommen wurde, während sich im ganzen Land die Gewissheiten auflösen. Die Autorin verfügt über die literarischen Mittel, den Strudel der Unsicherheiten nicht nur zu beschreiben, sondern ihn fassbar zu machen.