Probleme der Integration

„Gerechtigkeit und Idealismus versus Versöhnung und Machtstreben“: Kristina Meyers gründliche Studie über den Umgang der SPD mit der NS-Vergangenheit bietet Stoff für Diskussionen.
Von Dietfrid Krause-Vilmar
Der Umgang der politischen Parteien in Westdeutschland und der Bundesrepublik mit der Hypothek des Nationalsozialismus gehört zu den schwierigen und meist umgangenen Themen der Parteigeschichte und ist bislang noch nicht gründlich erforscht.
Kristina Meyer legt nun eine chronologisch angelegte, sehr sorgfältig und umfassend recherchierte Monografie zur Sozialdemokratie vor. Reden sowie andere öffentliche Verlautbarungen, Parteitage, Korrespondenzen, Vorstandsprotokolle und Nachlässe, vor allem aus dem „Archiv der sozialen Demokratie“ und dem „Willy Brandt Archiv“ werden unter kundiger Einbeziehung des zeitgeschichtlichen Kontextes ausgewertet.
Gelegentlich tauchen lokale und regionale Stimmen auf; die Untersuchung ist jedoch durchgehend auf Bundesebene angesiedelt; es geht der Autorin um die Strategien und Haltungen der Parteiführung der SPD in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die SPD war die Partei, die nach 1945 die vom Nationalsozialismus Verfolgten, Widerstandskämpfer und Emigranten in hoher Zahl aufgenommen und in Führungspositionen gewählt hatte. Ihr erster Parteivorsitzender Kurt Schumacher war u. a. acht Jahre lang im Konzentrationslager Dachau eingesperrt gewesen. Insofern sah sich die SPD diesen Menschen gegenüber in besonderer Weise verpflichtet.
Andererseits erforderte die von der Partei angestrebte Übernahme der politischen Verantwortung als breit aufgestellte Volkspartei die Zustimmung und Mitarbeit einer möglichst großen Zahl von Deutschen, die ganz überwiegend – nicht nur die sieben Millionen Parteimitglieder – vom Nationalsozialismus geprägt waren und nicht von heute auf morgen in der Lage oder bereit waren, sich politisch grundlegend neu zu orientieren.
Wie integriert man Tausende NS-Anhänger als Mitglieder und Wähler?
Die SPD sah sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, Tausende NS-Anhänger als Mitglieder und Wähler zu integrieren. Sie suchte mit der Aufnahme ehemaliger Nazis eine „innere Versöhnung“ der Gesellschaft „durch die Übernahme politischer Verantwortung zu erreichen, zugleich aber dem Anspruch nach Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer gerecht zu werden“.
Damit begab sie sich auf eine permanente Gratwanderung. „Ihr Umgang mit der NS-Vergangenheit, so die Ausgangsthese, war von Widersprüchen und Interessenkonflikten bestimmt – und gekennzeichnet durch Kompromisse und Zugeständnisse der einst widerständigen Minderheit gegenüber der Mehrheit der Deutschen“.
Der Autorin gelingt es unter Einbeziehung bislang nicht bekannter Dokumente (besonders aus den nachgelassenen Papieren der Parteiführer), diese Widersprüche, Diskussionen, Konflikte und gefundenen Kompromisse in der Partei und der Bundestagfraktion ins Einzelne gehend präzis nachzuzeichnen und die entsprechenden Probleme in aller Deutlichkeit sichtbar zu machen. Im Vordergrund der jeweils ins Detail gehenden Darstellung (mit vielen neuen Aspekten und Informationen) stehen die Diskussionen um die zentralen politischen Strategien und Entscheidungen der Partei, ob es sich um die Aufnahme ehemaliger Nationalsozialisten in die SPD, die Entnazifizierung, die „Landsberger“, die Verjährungsdebatten, die Wiedergutmachung oder den Widerstand handelte.
So wurden zum Beispiel die zunächst geforderten Leumundszeugnisse bei Aufnahmeanträgen „zunehmend bedenkenlos und beliebig ausgestellt“. Das Rekrutierungsinteresse an Mitgliedern sei womöglich gewichtiger gewesen als eine gänzlich unbelastete Vita. Im Jahr 1948 forderte ein Parteimitglied aus Unterfranken eine Reinigung der Partei, denn „es könne nicht angehen, ‚dass diese Leute Führerstellen in der SPD einnehmen‘, wie ihm von ‚zahllosen Fällen‘ bekannt sei“.
Solche Beispiele, die unerwünschte Wirkungen der Strategie einer inneren Versöhnung andeuten, wären in lokalen bzw. regionalen Studien näher zu untersuchen. Dabei wäre es auch aufschlussreich zu ermitteln, ob Spuren nationalsozialistisch geprägter Welt- und Lebensauffassung in der Mitgliedschaft bearbeitet werden konnten.
Der Umgang der Parteiführung mit der von Studierenden des SDS initiierten Karlsruher Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“, der 1960 zum Ausschluss der Studenten aus der Partei führte und die Förderung des SDS durch die Partei beendete, veranschaulichte das Dilemma der Partei „Gerechtigkeit und Idealismus versus Versöhnung und Machtstreben“. Die SPD-Führung befürchtete „eine unkontrollierbare außerparlamentarische Debatte über die NS-Vergangenheit der Justiz“, die „in einer Kettenreaktion auf andere Berufsgruppen übergreifen und damit nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch die Wahlergebnisse der SPD gefährden (könnte)“.
Als Continuo begleiten überwiegend kritische Stimmen der ehemals Verfolgten und Emigranten die Diskussionen der Parteiführung. Deutlich werden unterschiedliche Perspektiven auf den Nationalsozialismus, nicht nur zwischen Parteispitze und Opposition, sondern auch innerhalb der Parteiführung selbst. Unterscheidbare Profile in Einzelfragen treten bei Carlo Schmid, Adolf Arndt, Fritz Erler, Willy Brandt und anderen hervor.
Am Ende stellt die Autorin fest: „Das Verhältnis der sozialdemokratischen Widerstandskämpfer, Verfolgten und Emigranten blieb auf Dauer asymmetrisch: Die Minderheit musste sich um das Wohlwollen und die Wählerstimmen der einstigen ‚Volksgenossen‘ bemühen, nicht umgekehrt. (…) Wie dies jeder einzelne mit sich auszumachen verstand, und welche Skrupel und Enttäuschungen damit verbunden waren, bleibt am Ende die am schwierigsten zu beantwortende Frage.“
Eingang fand Kristina Meyers Darstellung als Band 18 in die von Norbert Frei herausgegebenen „Beiträge zu Geschichte des 20. Jahrhunderts“. Die exzellente Forschung der Jenaer Historikerin regt zu weiteren Fragen an.
Wie ist die bestimmte Konflikte bewusst vermeidende Strategie der „inneren Versöhnung“ der Gesellschaft, diese Gratwanderung, zu beurteilen? Und wie ging die Partei mit der NS-Belastung führender sozialdemokratischer Nachkriegspolitiker um, die in jüngster Zeit Thema öffentlicher Kontroversen war? „Eine Sozialdemokratie, die sich ein kritisches Geschichtsbewusstsein zugutehält, wird solchen Debatten auch künftig nicht ausweichen können und wollen.“
Der Autor, Jg. 1939, war Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Kassel. Von 2005 bis 2007 war er Kommissarischer Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt.