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Der Drang, Zeugnis abzulegen: Primo Levi zum hundertsten Geburtstag

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Von: Arno Widmann

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Primo Levi um das Jahr 1980.
Primo Levi um das Jahr 1980. © Imago Images

Schriftsteller Primo Levi, der große Zeitzeuge, schrieb über die Grenze unserer Menschlichkeit, die er in Auschwitz gesehen hatte.

Vor einhundert Jahren, am 31. Juli 1919, wurde Primo Levi in Turin geboren, im Haus Corso Re Umberto 75, in dem er am 11. April 1987 tot unten im Treppenhaus aufgefunden wurde. Ein Unfall? Selbstmord? Dazwischen studierte er Chemie, war Partisan gegen die Deutschen, wurde nach Auschwitz gebracht, überlebte, kehrte auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Turin, wurde Direktor einer Farbenfabrik und einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts.

Ein Schriftsteller, der Wert darauf legte, kein Schriftsteller zu sein. Er beschrieb sein Schreiben so: „Das Werk eines Chemikers, der wiegt und spaltet, misst und urteilt auf Grund sicherer Beweise und sich bemüht, die Fragen nach dem Warum zu beantworten.“ Kein Wort über die Suche nach dem richtigen Adjektiv, nach schönen Metaphern und Klängen. Alles natürlich dem Erzähler und Dichter, dem begeisterten Leser bestens vertraut. Aber dann doch so wichtig nicht wie der Drang, Zeugnis abzulegen.

Er hatte in Auschwitz die Wahrheit über den Menschen gesehen. Davon wollte, davon musste er erzählen. Sein erstes Buch „Ist das ein Mensch?“, ein Bericht über seine Zeit in Auschwitz, erschien 1947. Kaum jemand interessierte sich dafür. Die großen Verlage hatten ihn abgelehnt. Bei Einaudi hatten sich Natalia Ginzburg und Cesare Pavese dagegen ausgesprochen. Der kleine Verlag Francesco De Silva druckte eine Auflage von 2500 Exemplaren. Auf tausend blieb er sitzen. Der Erfolg kam 1958 mit einer von Italo Calvino betriebenen neuen Ausgabe – nun doch bei Einaudi. Seitdem ist „Ist das ein Mensch?“ in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und nach und nach als eines der großen Werke des 20. Jahrhunderts anerkannt worden.

Primo Levi wollte verstehen, nicht anklagen

Nicht zuletzt, weil Primo Levi nicht anklagen, sondern verstehen wollte. Weil er wissen wollte, was war und wie es war. Weil er analysierte, statt Stimmung zu machen. Seine beharrliche Lakonie machte ihn einzigartig. Es ging ihm nicht um Einfühlung. Der Chemiker fühlt sich nicht ein in die von ihm erforschten Stoffe. Er unterwirft sie den unterschiedlichsten Prozeduren und protokolliert ihr Verhalten. Je genauer er das tut, desto leichter macht er es uns, die wir den Experimenten nicht beigewohnt haben, die Reaktionen des Stoffes zu verstehen.

Die Experimente des Chemikers müssen reproduzierbar sein. Der Erzähler Primo Levi hat dieses Problem nicht. Er weiß: Da Auschwitz einmal möglich war, kann es das immer wieder sein. Sicher gab es Auschwitze schon vor Auschwitz. Auschwitz ist ein Aggregatzustand. Es ist auch der Augenblick der Wahrheit.

In der Sammlung von Aufsätzen und Glossen „Anderer Leute Berufe“ (1985) macht sich Primo Levi Gedanken über die Redewendung „Das Leben lesen“. Es sei eine ausschließlich von Frauen verwendete süditalienische Wendung, schreibt er, die zudem nur in der dritten Person verwendet würde. Niemals also gebe es ein Ich, das das Leben läse.

Primo Levi liest das Leben, nicht die Literatur

Das ist natürlich eine sehr interessante Erörterung, denn so sehr sich Levi auch über Literatur geäußert hat, seine Autorschaft rührt doch daher, dass er das Leben liest und nicht die Literatur. Und er zeigt durch seine Praxis, dass es eines Ichs bedarf, um das Leben zu lesen. Eines Ichs, das sich ihm aussetzt und Buch führt über das, was ihm beim leben widerfährt. Wie es sich ändert unter Druck, wie Temperaturwechsel auf es einwirken.

Aber diese Ebene betrachtet Levi keine Sekunde lang. Sein Interesse wurde zwar angestoßen von der Redewendung „das Leben lesen“, aber von einer sehr spezifischen Interpretation. Jemandem das Leben lesen bedeutet, ihm klarzumachen, wie falsch seine Vorstellungen über die Welt und über sich selbst sind. Das Leben zu lesen bekommen heißt, seine Fehler, sein Scheitern vor Augen gehalten zu bekommen.

Ausgerechnet bei Luise Rinser stößt er auf die deutsche Wendung, jemandem die Leviten lesen. Die interessiert natürlich Primo Levi. Jemandem ins Gewissen reden, ihm vor Augen stellen, was er alles verkehrt macht. Er forscht weiter und entdeckt, dass in vielen Klöstern die erste morgendliche Bibel-Lesung eine aus dem Buch „Levitikus“, dem 3. Buch Mose war. Das endet damit, dass Gott alle verflucht, die nicht auf ihn hören und seine Gebote nicht befolgen.

Primo Levi wollte sicherstellen, dass niemand so weiterleben konnte, als habe es Auschwitz nicht gegeben

Primo Levi hat niemandem jemals die Leviten gelesen. Sein ganzes Schreiben war gerichtet gegen die Vorstellung, man brauche nur einen Satz von Regeln und ihm folgen, dann werde alles gut. Der Zerfall der Werte lässt sich beschreiben. Er lässt sich – bei aufmerksamer Beobachtung und beherztem Einsatz der Vernunft – sogar aufhalten, aber er ist niemandem vorzuwerfen. Wem nicht wohl ist dabei, wenn ihm sein Leben gelesen wird, der muss sich fragen, ob es am Leser oder an seinem Leben liegt.

Levis ganze Anstrengung war darauf gerichtet, klar und deutlich zu sehen wie die „Untergegangenen und die Geretteten“, die Täter und die Opfer, die Guten und die Bösen den Aggregatzustand von Auschwitz durchlebt hatten. Er wollte auch sicherstellen, dass niemand nach Auschwitz so weiterleben konnte, als habe es Auschwitz nicht gegeben. Die Menschheit hatte sich in Auschwitz erkannt. Es wäre ein Verbrechen gewesen, sich dumm zu stellen und hinter diese Erkenntnis zurückzufallen.

Auschwitz zeigt uns, dass es auf der einen Seite die Täter und auf der anderen Seite die Opfer gibt. An dieser Differenz ist nicht zu rütteln. Sie lässt sich nicht einschmelzen. In der Sowjetunion galt: Wer heute ins Lager schickte, konnte morgen selbst dorthin geschickt werden. Auschwitz war anders. Es war ein Vernichtungslager und es stand fest, wer vernichten und wer vernichtet würde. Diesen Unterschied gilt es festzuhalten.

Aber zur Erfahrung von Auschwitz gehört auch: Jeder kämpft für sich allein. Je bedrohlicher die Situation wird, desto asozialer wird der Mensch. Er wird zum Körper, der sich am Leben zu erhalten versucht. Keine politische, keine moralische, keine religiöse, keine soziale Überlegung kommt dagegen an. Das ist die Auschwitz-Erfahrung von Primo Levi, das ist es, was er in diesem Experimentum crucis herausgefunden hat.

Primo Levis Erfahrung: Alle können unter bestimmten Umständen zu Monstern werden

Es ist die Wahrheit. Es hilft nichts, sie zu leugnen. Man entkommt ihr nicht. Aber zu ihr gehört auch das Wissen. Auschwitz ist nur ein Aggregatzustand. Man kann versuchen ihn zu vermeiden. Man muss das versuchen, wenn man einmal begriffen hat, dass „Auschwitz“ nichts Einmaliges ist, kein „Zivilisationsbruch“, sondern immer als eine Möglichkeit vor uns liegt. „Es ist passiert, also kann es wieder passieren: Das ist der Kern dessen, was wir zu sagen haben“, schreibt Primo Levi. Er dachte dabei nicht an exakte Reprisen. Er wusste, dass die Strategie der Vernichtung, der Auslöschung immer wieder sich in immer neuen Gewändern und Formen durchsetzen kann.

Die KZ-Wärter, die Folterer sind keine Monster. Sie sind wie wir alle. Wir alle können unter bestimmten Umständen zu KZ-Wärtern, zu Monstern werden. Das ist nicht Primo Levis Botschaft. Das ist seine Erfahrung. Wie alle Erfahrung gilt sie nicht hundertprozentig. Tatsächlich wird doch nicht jeder zum KZ-Wärter. So wenig wie jeder – die richtigen Umstände vorausgesetzt – zu einem Schindler werden wird.

Die meisten Menschen gehören der „Grauzone“ an. „Niemand kann wissen, wie lange und welchen Prüfungen die eigene Seele zu widerstehen vermag, ehe sie sich beugt oder zerbricht.“ („Die Untergegangenen und die Geretteten“, übersetzt von Moshe Kahn).

Primo Levi musste schreiben über die Grenze unserer Menschlichkeit

Dem Kollegen Philip Roth erzählte Primo Levi, sein Schreibtisch befände sich, so laute die Familienlegende, genau an der Stelle, an der seine Mutter ihn geboren habe. Levi hat diese Familienlegende womöglich in exakt diesem Moment erst erfunden, weil es ihm großartig erschien, seine eigenen Produkte an dem Ort geboren zu haben, da er geboren wurde. Als er Roth das erzählte, lebte seine Mutter noch. Ester, geborene Luzzati (1895 – 1991), lebte ja noch, als ihr Sohn 1987 im Treppenhaus zu Tode stürzte. Sie lebten alle in der Wohnung, aus der er damals hinaustrat in den Tod. Seine von ihm sehr geliebte zwei Jahre jüngere Schwester Anna Maria starb 2013.

Primo Levi heiratete 1947 Lucia Morpurgo (1920-2009). Über sie alle hat er wenig oder nichts geschrieben. Auch kein Wort über seine Kinder Lisa, geboren 1948, und Renzo (1957). In seinen Erzählungen und Gedichten kaum ein Wort über Liebe. Danach befragt, soll er mit einem mokanten Lächeln gesagt haben: „Die meisten Bücher handeln von Liebe, da braucht man nicht noch eines von mir.“ Das Private war nicht sein Thema. In diesem Sinne wollte er ganz sicher kein Schriftsteller sein.

Er war in Auschwitz hinter unser Geheimnis gekommen. Primo Levi war der Zeuge, der Geschichtsschreiber dieser Erfahrung. Von anderen mochte er wissen, aber schreiben musste er nur über die Grenze unserer Menschlichkeit, die er in Auschwitz gesehen hatte.

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