Preise der Leipziger Buchmesse: Aber was wird die Mutter von Dinçer Güçyeter dazu sagen

Dinçer Güçyeter, Regina Scheer und Johanna Schwering gewinnen mit guten Gründen die Preise der Leipziger Buchmesse.
Dinçer Güçyeters Mutter fand es schon irre, dass er im vergangenen Jahr den Peter-Huchel-Preis gewann. Hätten in der Corona-Zeit alle ihren Verstand verloren, so die Mutter laut Güçyeter, als er ihr im Garten die gute Nachricht überbrachte. Sein Buch „Unser Deutschlandmärchen“ fand sie zu teuer. Wer, habe sie gefragt, kaufe denn so etwas. Offenbar ist sie eine Meisterin rhetorischer Fragen, und offenbar muss man sich gut verstehen, um so miteinander umzugehen, ohne sich auf ewig zu kränken. Und er wolle sich gar nicht vorstellen, was sie zum jüngsten Erfolg ihres Sohnes sagen werde.
Am Donnerstag gewann Dinçer Güçyeter den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik, eben für „Unser Deutschlandmärchen“, ein facetten- und farbenreiches Buch über eine Familie, im Zentrum Fatma und ihr Sohn. Das Autofiktionale liegt nahe – und mag doch ein Spiel sein, nein, kein Spiel, Literatur. Immens ist die Welthaltigkeit, eine Welt der Fabriken, der Bordelle, überhaupt der harten Arbeit, aber transformiert in einen hochpoetischen Text, wie ein Lyriker ihn schreibt.
Fatmas Sohn, der Dinçer heißt, wächst unter sozial nicht einfachen Verhältnissen auf. Die Familie hält zusammen, aber der zweite Bildungsweg muss her. Ein Richter ist es, der den Weg weist: „Dinçer, deine Zeit kommt langsam, du musst vor Menschen lesen, die müssen deine Gedichte hören.“ Das von anderen behauptete Fremdsein im eigenen Land – 1979 wurde Güçyeter in Nettetal am Niederrhein geboren – ist ein Thema, die Sorgen angesichts der Anschläge in Mölln und Solingen 1992 und 1993, angesichts des NSU. Bitterkeit kommt nicht vor oder nur hauchfein in einem Erzählgewebe, das – so Laudatorin Cornelia Geißler – feiner gewirkt sei als ein Schmetterlingskescher.
Kann Literatur helfen? Immer, so Güçyeter im Gespräch vorab. Er verbeuge sich, rief er in den euphorischen Preisjubel hinein, vor allen Frauen in den Fabriken und den Bordellen, vor allen Putzfrauen. Und er bat andere auf die Bühne. „Es ist unser gemeinsamer Preis“, sagte er.
Preisjubel ist immer euphorisch, das stimmt. Güçyeters Buch konkurrierte in Leipzig aber unter anderem immerhin mit Clemens J. Setz’ „Monde vor der Landung“ und Ulrike Draesners „Die Verwandelten“. Eine solche Entscheidung ist eine Wucht für den Autor und den mikrotext-Verlag in Berlin, bei dem das Jubeln und Kreischen sicher die ganze Nacht angehalten hat.
Eine beeindruckende Dramaturgie insgesamt an diesem Nachmittag, Güçyeter, der auch Theater macht, wird sein Gefallen daran haben. Denn bevor er sich vor vielen Frauen verbeugte, waren die ersten beiden Auszeichnungen ungewöhnlich ausschließlich und auf mehreren Ebenen an Frauen gegangen.
In der Kategorie Sachbuch gewann Regina Scheer, die eine Biografie über die Kommunistin Hertha Gordon-Walcher geschrieben hat. „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“ (Penguin) erzähle die Lebensgeschichte einer Frau, die weder in den Geschichtsbüchern noch im kollektiven Gedächtnis einen Platz gefunden habe, eine Unsichtbare, immer in der zweiten Reihe, so Laudatorin Anne-Dore Krohn, Scheer betonte aber, dass es kein gescheitertes, kein vergebliches Leben gewesen sei. Gordon-Walcher, mit der sie noch persönlich über viele Jahre Gespräche führen konnte, sei eine nichtstalinistische Kommunistin gewesen – vor allem darum sei es wichtig, an sie zu erinnern. Auch hier war die Konkurrenz stark – Jan Philipp Reemtsmas Wieland-Biografie darunter, ebenso „Gekränkte Freiheit“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Und erstmals ein Comic (Birgit Weyhes „Rude Girl“), denn in Leipzig fällt den Jurys immer etwas Neues ein.
In der Kategorie Übersetzung gewann Johanna Schwering, die den Roman „Die Cousinen“ der Argentinierin Aurora Venturini (1922-2015) aus dem Spanischen übertragen hat (bei dtv erschienen). Laudatorin Shirin Sojitrawalla würdigte das „sagenhafte Deutsch“, die „besondere Grammatik“, die „Härte“, den „sprühenden Witz“. Auch Venturini erzählt großartigerweise die Geschichte einer Schriftstellerwerdung. Die Erzählerin bildet und befreit sich mithilfe eines Wörterbuchs, wie lesen mit, wie sich das sprachlich zeigt.
Venturini, so Schwering, sei sich im Klaren darüber gewesen, dass sie einen bedeutenden Roman geschrieben habe. Sie war zu diesem Zeitpunkt Mitte 80, bewarb sich um einen Literaturpreis für junge Talente und gewann. 60 Jahre, sagte Schwering, habe sie unter dem Radar der Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs verbracht. In Deutschland habe es jetzt immerhin nur sechs Monate gedauert. „Die Cousinen“ ist der erste Venturini-Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Da kann noch was kommen.
Die Preise der Leipziger Buchmesse sind mit insgesamt 60 000 Euro dotiert.