„Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ von Eugen Ruge: Bimssteine auf Pompeji

Warum haben die Menschen die Vorzeichen der Natur nicht ernst genommen? Ein unterhaltsamer Roman über den Vulkanausbruch.
Das Ende ist bekannt: Ein Knall, eine Wolke. Aber alles, was vorher geschieht, ist eine heiße Neuigkeit. Am Ende also bricht der Vesuv aus. Er schießt Bimsstein auf Pompeji, setzt Schwefeldämpfe frei, spuckt Lava und streut Asche. Rund 2000 Menschen sterben, unter ihnen auch Plinius der Ältere, der gesagt hat, „man müsse tausend Bücher lesen, um ein einziges schreiben zu können.“ Danach existiert die Stadt am Golf von Neapel nicht mehr. So geschehen im Jahre 79 nach Christus. Lang ist es her.
Warum nur haben die Menschen die Vorzeichen der Natur und die Warnungen von Beobachtern nicht ernst genommen? Die Katastrophe kam ja nicht aus heiterem Himmel. Die Antwort darauf gibt uns Eugen Ruge in seinem Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“. Einerseits ist es ein Buch wie ein Vulkan: Kraftvoll und faszinierend. Andererseits hat es völlig unvulkanische Eigenschaften, ist es heiter, gewitzt und stellenweise urkomisch. Eine Parabel aus der Vergangenheit für die Gegenwart. Ihre Losung lautet: Mensch, gehe doch nicht sehenden Auges in dein Unglück!
Mit anhaltendem Vergnügen folgen wir dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Josse (alias Jowna alias Josephus). Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen, führt als Jugendlicher eine Bande an, findet überraschend Zugang zur lokalen Elite und kandidiert eines Tages für das höchste Amt in der Stadt Pompeji. Hilfreich sind ihm dabei seine rhetorischen Fähigkeiten, seine mangelhafte Prinzipientreue, sein Wendehals. Josse warnt – eher zufällig, aber immerhin – früh davor, dass das gerade überstandene Erdbeben nur die Ankündigung einer noch viel größeren Katastrophe sei. Nämlich eines Vulkanausbruchs. Als er ein paar Mitstreiter findet, um abseits der Stadt eine neue Siedlung zu gründen, wo man sich sicher wähnen darf, wird man in Pompeji hellhörig. Denn das fehlte ja noch, dass plötzlich eine Abwanderung einsetzte! Was hätte das denn für Konsequenzen – beispielsweise für die Immobilienpreise?
Die mächtige Livia Numistria – eine Schönheit mit Geld, Einfluss und einem Spindoctor namens Epiphanes – nimmt sich der Sache an. Das heißt: sie nimmt sich des Josse an. Es braucht nicht viel, um ihn davon zu überzeugen, wie vorteilhaft es für ihn wäre, würde er gegen die neue Bewegung zu Felde ziehen, die er selbst ins Leben gerufen hat. Was werden denn die Leute sagen? Doch Livia winkt ab: „Niemand interessiert sich dafür, was du gestern gesagt hast. Sie wollen wissen, was du heute sagst.“ Bald gründet er einen neuen „Vulkanverein“, der sich dafür ausspricht, in der Stadt zu bleiben. Das neue Motto: „Leben mit dem Vulkan!“ Man flüchtet nicht vor dem Vulkan, sondern bittet ihn betend um Schonung.
Das Buch
Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. Roman. dtv, München 2023. 364 Seiten, 25 Euro.
Der Roman ruft zum Zweifel auf. An der Geschichtsschreibung. An der Macht. An der Politik. An dem, was als richtig und was als falsch ausgewiesen wird. An der demokratischen Wahl eines Priesters, deren Ausgang vorab festgelegt worden war. An Menschen wie Josse, die bei einem Richtungswechsel behaupten: „Ich habe das schon immer gesagt.“ Böswillige könnten den Roman als Abgesang auf die Demokratie lesen. Aber Sinn macht er nur, wenn man ihn als Aufforderung begreift, die Demokratie wachsam zu leben.
Komisch ist diese Erzählung fast durchweg. Auch deshalb, weil die Schwächen der Menschen, ihre Verführbarkeit und Verlogenheit, der Verrat an den eigenen Idealen und Überzeugungen so absurd wie vertraut anmuten. Nicht selten meint man, ein Echo von Monty Python zu vernehmen, zumal dann, wenn von den Sektierern die Rede ist, vorneweg den Pythagoreern. Das Vokabular ist erstaunlich aktuell – vom „Naturschutz“ über die „schonende Produktion“ bis zur „Hand Gottes“ (womit nicht Maradonas Handspiel, sondern der Zufall gemeint ist). Dabei wird die historische Genauigkeit im Blick behalten: Einen Günstling lässt man „fallen wie eine heiße Kastanie“ und nicht wie eine heiße Kartoffel, die in der Antike noch nicht in europäischer Erde wuchs.
Auch verwendet Eugen Ruge, der über 40 Jahre in der DDR gelebt hat, einige Vokabeln, bei denen die Erinnerung an die deutsch-deutsche Vereinigung wachgekitzelt wird. Da machen sich „Mauerspechte“ an den Ruinen zu schaffen, wird über Pompejis „freiwilligen Anschluss“ an die Großmacht Rom sinniert, wird eine „blühende Landschaft“ prognostiziert und taucht ein Satz auf, dem nur noch ein „doch“ zum Erich-Mielke-Spruch fehlt: „Ich liebe euch alle!“ Auffallend ist die Neigung des Erzählers zum Drei- und Mehrklang. Als genügte nicht das eine Wort, führt er gleich mehrere an: „ein Gedankenspiel, eine Hypothese, eine interessante Theorie“. Oder so: „der Mensch braucht eine Idee, ein Ziel, eine Beschäftigung.“ Geschenkt!
Dies also ist „der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner“. Jedenfalls behauptet das der Erzähler. Um wen es sich dabei handelt, bleibt uns verborgen. Auf jeden Fall ist es ein überlebender Zeitzeuge. Also nicht Josse selbst. Der Erzähler verblüfft mit intimen Kenntnissen und scheint überall dabei zu sein – auch in den privatesten Winkeln der Privatgemächer. Was er auf den insgesamt 18 Schriftrollen festgehalten hat, verschließt er in einer Amphore, auf dass diese eines Tages „von denen entdeckt werde, die nach uns die Erde bewohnen.“ Die Entdeckung ist Eugen Ruge gelungen, der sich im Anhang beim Parco archeologico di Pompei für 14 Tage freien Eintritt bedankt. Es lohnt sich unbedingt, diese Schriftrollen zu studieren. Selten strotzte die Antike so sehr vor Vitalität und Aktualität. Was für eine Amphore!