- 0 Kommentare
- Weitere
Karl Ove Knausgård
Die Poesie der Milchzähne
- vonFrank Junghänelschließen
Der Erschaffer der Welt: Karl Ove Knausgårds Betrachtungen „Im Herbst“
Karl Ove Knausgård ist Gott. Ein Schreibgott, der es, nach allem, was man hört, besonders lesenden Männer angetan hat. Mit seiner egomanischen Selbstbetrachtung, die in seiner norwegischen Heimat unter dem hierzulande nicht vermittelbaren Titel „Min Kamp“ (Mein Kampf) erschienen ist, spricht er offenbar vielen aus der Seele.
Auf viereinhalbtausend Seiten kehrt Knausgård sein Inneres nach außen, er schreibt über das Sterben seines Vaters so schonungslos und ergreifend wie über seine Sehnsucht nach Sex, er spricht über die Liebe zu seinen Kindern wie vom frustrierenden Familienalltag, er erzählt von Aufbrüchen und Abstürzen, er hält Gericht über sein Leben und schneidet bei allem Bemühen nicht gut dabei ab. Vielleicht ist es das, was ihn so einnehmend macht.
Knausgård ist tatsächlich Gott
Und nun? Was soll einem derart existenziellen Werk folgen? Was kann überhaupt das nächste Wort sein? Knausgårds Antwort ist so plausibel wie poetisch. Er weitet den Blick, indem er ihn verengt. In den kurzen Betrachtungen unter dem Titel „Im Herbst“ nimmt er die Welt, wie sie uns umgibt und in uns lebt, unter seine literarische Lupe. So schreibt Knausgård hinreißende Minimalessays über „Äpfel“ und „Wespen“, „Plastiktüten“ und „Telefone“, über „Pisse“ und „Fieber“, „Schmerz“ und „Erbrochenes“ und auch über „Einsamkeit“ und „Vergebung“. Um nur einige Beispiele aus diesem schönen Buch zu nennen, das von der norwegische Malerin Vanessa Baird illustriert wurde.
Knausgård ist tatsächlich Gott, wie sich nun zeigt. Indem er die Welt beschreibt, erschafft er sie auf seine Weise noch einmal neu. Er macht bewusst, was unter der Kruste des Ungerührtseins verborgen liegt und gibt dem scheinbar Gewöhnlichen seine Einzigartigkeit zurück.
Wer hätte je so intensiv und einfühlend über das Faszinosum Milchzahn nachgedacht: „Wenn die ersten Zähne kommen, diese kleinen Steine, die langsam durch den roten Gaumen des Kindes gepresst werden und sich zunächst als Zacken zeigen, danach wie kleine weiße Türme im Mund stehen, fällt es einem schwer, sich nicht zu wundern, denn woher kommen sie eigentlich.“ Schon in diesem einen Satz formuliert sich das Knausgård’sche Schreiben auf exemplarische Weise.
Die Genauigkeit der Beobachtung findet Eingang in eine Sprache, die über Nebensätze und Umleitungen auf mitunter nicht mehr erwartete Weise schließlich doch wieder an den Ausgangspunkt der Überlegung zurückfindet.
Adressat dieser Episteln, wie man hier wirklich sagen kann, ist Knausgårds zur Zeit des Schreibens noch ungeborene Tochter, der er zu Beginn eines jeden Herbstmonats jeweils einen kurzen Brief widmet. Insgesamt ist das Projekt auf vier Bücher angelegt, Texte aus Winter, Frühling und Sommer sollen folgen. Im ersten der Briefe erklärt er dem Kind und somit dem Leser die Idee seiner Aufzeichnungen. Er tue das alles natürlich sich selbst zuliebe: „Dir die Welt zu zeigen, meine Kleine, macht mein Leben lebenswert.“ Der Kampf geht weiter.