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Peter Kurzeck: „Der vorige Sommer und der Sommer davor“ – Panik und Zauberei

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Von: Andreas Maier

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Peter Kurzeck, 1943 in Tachau (Sudetenland) geboren, 2013 in Frankfurt gestorben.
Peter Kurzeck, 1943 in Tachau (Sudetenland) geboren, 2013 in Frankfurt gestorben. © Erika Schmied/Schöffling & Co.

Unfassbare Prosa. Jedes Jahr eines Büchner-Preises würdig. Zu Peter Kurzecks jetzt postum herausgekommenem Roman „Der vorige Sommer und der Sommer davor“.

In unserer Kindheit gab es Augenblicke, da war sie plötzlich weg, die Zeit, und wir merkten es nicht einmal. Die berühmten Nachmittage in den Sommerferien, die Samstage, eine stehende Fläche. Dem neuen Buch von Peter Kurzeck gelingt genau das in den meisten seiner Momente: die völlige Aufhebung von Zeit.

Peter Kurzeck ist der große Erinnerungskünstler der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Durch seine Bücher kann man so detailliert in vergangene Tage, Orte, Gesellschaftszusammenhänge eintauchen, dass die oft zitierte Detailakribie von Joyce’ Ulysses damit schwer mithalten könnte. Dem Frankfurter Stadtteil Bockenheim hat Peter Kurzeck ein Denkmal gesetzt, wie es selbst andere, größere, mit mehr Mythen verwobene Städte nicht vorweisen können.

Hat uns Kurzeck in seinen letzten Büchern ... ach ja, Peter Kurzeck ist übrigens seit einigen Jahren tot ... immer wieder durch jenes Frankfurt und vor allem eben Bockenheim des Jahres 1983/84 geführt, und von da sich rückerinnernd immer wieder in seine Kindheit im oberhessischen Staufenberg, so bekommen wir nun plötzlich ein Urlaubsbuch in die Hand: „Der vorige Sommer und der Sommer davor“. Schon der Titel arbeitet an der Aufhebung von Zeit. Das ist nun also das Buch, posthum veröffentlicht, von dem Peter Kurzeck seit vielleicht fünfzehn Jahren (auch mir gegenüber) gesprochen hatte. Dass es sich um ein so durchgeschriebenes, umfangreiches Manuskript handeln würde, ist überraschend und beglückend zugleich. Was darin zu lesen steht, kennen alle Kurzeck-Leserinnen und -Leser bereits.

Das Personal ist bekannt: Der Erzähler Peter (von seinem kleinen Kind Carina Peta genannt), die ewig junge und schöne Sibylle, seine Freundin, diesmal literarisch nach Südfrankreich und ins dortige Licht und an den dortigen Strand gestellt; dann das befreundete Pärchen Pascale und Jürgen, das in einem kleinen Ort namens Barjac ein winziges Restaurant eröffnet hat. Das Restaurant kennen wir aus zahllosen Telefonaten, die Jürgen in anderen Büchern mit Peter geführt hat. Wir wissen auch bereits von den Sommerurlauben, die Peter, Carina und Sibylle teils in Barjac, teils in einem Strandort namens Saintes-Maries-de-la-Mer verbracht haben.

Aber was heißt wissen? Diesmal führt uns Peter Kurzeck leibhaftig an diese Orte, in die Stimmung, in das Licht, in die Zeit hinein, wie nur er es kann. Man lese nur allein die lange Passage über das kleine, ständig vom finanziellen Ruin bedrohte Restaurant, das für eine winzige Ewigkeit eines Sommers die ganze Welt wird, vor allem auch für Carina, das Kind. Ich will davon nichts paraphrasieren, nichts von der Erfahrungsdichte, von der Wahrnehmungsgesättigtheit, es kann nicht gelingen. Es ist eine der sprachlich schönsten Stellen, die ich je in meiner eigenen Sprache gelesen habe. Und anschließend waren wir tatsächlich in diesem kleinen Restaurant, jeder Leserin, jeder Leser dieses Buches wird dort gewesen sein, allein Kraft der Buchstaben. Diese Vergegenwärtigungskunst macht mich völlig atemlos und vor allem auch neidisch. Niemals in meinem Leben werde ich solche Seiten schreiben können. Wenn Hölderlin den schönsten Ton deutschsprachiger Poesie hat, dann stehen diese Prosa-Seiten, was Tonschönheit und Verzauberung angeht, auf einer Höhe mit ihm. Unfassbare Prosa. Jedes Jahr eines Büchner-Preises würdig.

Dies ist ein Sommerbuch. Peter Kurzeck nannte es immer „Das Sommerbuch“. Und tatsächlich ist in diesem Buch mehr Sommer drin als in jedem anderen Sommerbuch, das ich kenne. Ein pagnolhaftes Licht durchflutet die Szenen, man hört an jeder Stelle den Wind und die Zikaden, und man erlebt es selbst: dass die Zeit langsam wird, ruckt, nur noch von der Stelle ruckt (keine Ahnung, wie oft das Wort „die Zeit ruckt“ im Text vorkommt), und dann stehen die alten Männer am Dorfplatz, spielen Boule, und die Ewigkeit des gegenwärtigen Tages hat begonnen.

Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019. 656 S., 32 Euro.
Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2019. 656 S., 32 Euro.

Dieses Buch ist aber auch sehr traurig. Die große Traurigkeitskunst entwickelt es über mehrere Schritte, manches bleibt unausgesprochen und hängt wie ein Damoklesschwert über jener Gesellschaft der vier Freunde. Dazu muss ich ein wenig ausholen, denn nicht alles an diesem Sommerbuch ist Sommer. Kurz nach dieser Sommerewigkeit wird Sibylle Peter verlassen und Carina mit sich nehmen. Das ist das Grundkonstrukt des gesamten riesigen Erzählzyklus „Das alte Jahrhundert“, als dessen siebter Band „Der vorige Sommer und der Sommer davor“ nun herausgekommen ist.

Kurzecks Leserschaft weiß seit dem ersten Band von dieser Trennung, die quasi den ganzen Romanzyklus auslöst und den Erzähler in immer größere Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsschleifen führt, als könnte er die Zeit dadurch bewahren. Auch das Verhältnis von Jürgen und Pascale zerbricht. Am Beginn des Buches kommt Jürgen nach Frankfurt zurück, das Restaurant in Barjac existiert schon nicht mehr. Jürgen hat dort wie eine Art Höhlenbewohner noch eine Weile von den restlichen Waren gelebt. Der ganze Sommer, wie auch der davor, sind eine gigantische, ja gigantomanische Erinnerung innerhalb des Textes. Der Erzähler versucht eine so atmosphärisch exakte Rückschau, als würde er jedes Atom benennen und beschreiben und wiederholen wollen, das ihm in jenen Wochen begegnet ist.

In diesem Buch steckt hinter der Sonne und dem Strand, den nächtlichen Zigeunern und den zahllosen Spaziergängen mit der mal drei-, mal vierjährigen Carina vor allem Panik. Sie vibiriert aus jeder Zeile. Der Erzähler befindet sich auf einer schiefen Ebene, und wir sehen ihn beim verzweifelten Versuch, nicht ins völlige Abstürzen zu geraten. Der Benennungs- und Aufzählungsfuror, auch dem Kind gegenüber und an dieses schon teils vererbt, lässt hinter die Kulisse dieser Seele blicken. Natürlich leben sie auch immer in Geldpanik und müssen dauernd ihr Geld zählen. Die Vierergruppe ist sowieso alles andere als bürgerlich. Jürgen war jahrelang untergetaucht. Aber der wahre Grund dieser Panik liegt woanders. Der Erzähler hat sein Leben lang getrunken und des Kindes wegen damit aufgehört. Er unterliegt anderen Zwängen, zum Beispiel dauerndes Espressotrinken, Kettenrauchen. Was auffällig ist: Er zwingt (Entschuldigung, im Text klingt es wie Zwingen) seine Freundin dazu, Pornogeschichten zu schreiben. Demgegenüber nimmt sich das Verhältnis zur Tochter irgendwie schräg aus. Die Situationen auf ihren gemeinsamen Spaziergängen, die Empathie, mit der Peter spricht, bleiben davon völlig unbelastet und unkontaminiert.

Es ist wundervoll, wie Peter dem Kind gegenüber Dinge, auch Tiere oder den Wind, beseelen und vermenschlichen kann. Dazu wäre eine ganze Arbeit zu schreiben (etwa: Animismus im Werk Peter Kurzeck): „Grüne und goldene Käfer im Gras. Und kümmern sich, müssen genau wie ihre Vorgänger im vorigen Jahr (oder sind sie es doch noch selbst?), müssen immerfort darauf achten, dass die Zeit funktioniert und in Gang bleibt.“ Oder etwa die Stiere im Gras: „Stehen und wissen, sie wollen sich an etwas erinnern, aber wissen nicht, wie es geht“. Zahllos sind diese Stellen im Buch. Die Welt wird in ihnen mit einem Zauberstab berührt.

Dennoch muss oder darf oder kann man sich ab jetzt und in alle Ewigkeit vorstellen, dass dieser Peter zugleich einen geradezu universalen täglichen Bedarf an selbstgeschriebener pornografischer Literatur hat. Ein Bedarf, der in seiner Zwanghaftigkeit nicht anders ist, als der Schreibzwang, mit dem das ganze „Alte Jahrhundert“ geschrieben ist. In den anderen Büchern wirkte es ja noch so, als würde Sibylle das aus eigener Marotte tun. Die Pornogeschichten waren bislang nur ein kleiner, schräger running gag am Rand, quer durch die Bücher des „Alten Jahrhunderts“. Der Erzähler steht jetzt etwas anders da als vorher.

Ich weiß allerdings überhaupt nicht, ob Peter Kurzeck dieses Thema in einer endgültigen Fassung des Buches so stark gemacht hätte. Vielleicht hätte er es wieder auf den kleinen running gag heruntergekürzt. Vieles vibriert ja noch viel stärker durch Aussparung und bloße Andeutung. Aber wie auch immer: In Peter Kurzeck haben wir stets ein bis an den äußersten Anschlag vibrierendes Seelenleben vor uns, und nur als ein solches konnte Peter Kurzeck diesen unglaublich vibrierenden, nervenzerfetzen und, kurz gesagt, wunderschönen Sommer schreiben, bewahren, vergegenwärtigen. Nur die Panik kann so etwas. Das weiß jeder Junkie. Diese beiden Kurzeck-Sommer hat die Panik geschaffen. Und deshalb sind sie auch kein Kitsch und kein Idyll. Sie sind vom Himmel gefallene Prosa.

Andreas Maier, 1967 in Bad Nauheim geboren, lebt heute als Schriftsteller in Hamburg und veröffentlichte im Suhrkamp Verlag soeben seinen neuen Roman „Die Familie“.

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