1. Startseite
  2. Kultur
  3. Literatur

Percival Everett „Die Bäume“: Endlich ist die Rache unser

Erstellt:

Von: Sylvia Staude

Kommentare

Am 3. September 1955 wird der Sarg Emmett Tills aus der Kirche getragen.
Am 3. September 1955 wird der Sarg Emmett Tills aus der Kirche getragen. © Imago

Der furiose Thriller „Die Bäume“ von Percival Everett.

Kann ein Lied ein wichtiger Hinweis in einer Ermittlung sein, möglicherweise sogar auf die Täter? In einer Kneipe, die vor allem von Schwarzen besucht wird, singt in Percival Everetts Thriller „Die Bäume“ eine Sängerin ungewöhnlicherweise das durch die nicht nur grandiose, sondern auch mutige Billie Holiday bekannt gewordene „Strange Fruit“: mit den seltsamen Früchten sind gelynchte Schwarze gemeint. Zwei schwarze Detectives hören zu und machen sich so ihre Gedanken. „Dieses Lied schaffte es, die Leute, die in Ordnung sind, von den Kretins und Idioten zu trennen“, so schrieb Holiday in ihrer Autobiografie. Für diese wünschte sie sich den Titel „Bitter Crop“, bittere Ernte, aber der Verlag lehnte ab.

Und nun also schlicht „Die Bäume“ (Orig. „The Trees“, 2021), alles andere als, wie man vielleicht meinen könnte, ein Ökothriller, vielmehr ein Rache-Roman, schnell und drastisch. Percival Everett, geboren 1956 in Georgia, lässt seine Geschichte Anfang des 21. Jahrhunderts im Südstaaten-Kaff Money spielen. Dort werden Unterschichten-Weiße ermordet, mit Stacheldraht fast enthauptet; bei ihnen liegt jeweils der Körper eines Schwarzen, der die abgeschnittenen Hoden des weißen Opfers in der Hand hält, der außerdem auf mysteriöse Weise wieder verschwindet – um erneut aufzutauchen. Kann der Schwarze entgegen jeder Anschauung noch gelebt haben, kann er der Mörder sein? Und warum ähnelt der Tote dem Jungen Emmett Till, der 1955 in ebendiesem Ort namens Money gelyncht wurde, weil er eine weiße Frau belästigt haben soll? Eine Lüge, wie die dann 72-jährige Carolyn Bryant 2007 bei einem Interview zugab.

Zurück zur Fiktion, die auf Krimi-Realismus bald immer mehr pfeift. In Hattiesburg, Mississippi, beschließt man schnell, den örtlichen Cops Unterstützung zukommen zu lassen und schickt die beiden MBI-Beamten Ed Morgan und Jim Davis – zwei Schwarze. Sie ermitteln im Folgenden unter kaum weniger rassistischen Menschen, als es sie ein knappes Jahrhundert früher gab. Sheriff Red Jetty und seinen Deputies, der weißen Bevölkerung von Money sowieso, rutscht immer wieder das N-Wort raus, noch öfter in seiner Ni-Form. Der schwarze Schriftsteller Percival Everett lässt seine Rassisten und Rassistinnen reden, wie sie es vor allem im Süden der USA heute noch tun dürften, seine Special Detectives jedenfalls kennen das „Ni...“- äh, „Afroamerikaner“-Spiel und sind ihrerseits nicht zimperlich, die weißen Opfer als dick und doof zu beschreiben.

„Unwiderstehlich lustig und todernst“ hat ein US-Kritiker den Roman genannt. Besonders Everetts schwarze Figuren sind so gewitzt wie witzig – wie beim legendären jüdischen Humor mag es eine Taktik sein, über das Grauen zu scherzen. Selbst eine über 100-jährige schwarze Frau lässt sich in Sachen Schlagfertigkeit nicht die Butter vom Brot nehmen. Sie hat außerdem seit Jahrzehnten ein Archiv angelegt – und hier sind wir beim todernsten Teil –, das möglichst lückenlos alle Lynchmorde in den USA dokumentieren soll. Darunter sind auch solche an asiatischen oder Latino-Stämmigen. Ein junger Mann kopiert die Namen raus; rund zehn Seiten nutzt Everett, um einfach nur Namen von Opfern zu reihen (inzwischen kann man viele von ihnen googeln).

Das Buch:

Percival Everett: Die Bäume. Roman. A. d. Engl. von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2023. 368 S., 26 Euro.

„,Die Bäume‘ gären schon fast mein ganzes Leben lang in mir“, hat Everett, der bereits mehr als zwanzig Romane veröffentlicht hat, über diesen gesagt. Er war noch ein Kind, als er auf einer Autofahrt mit seinem Vater im ländlichen South Carolina durch einen „Checkpoint“ des Ku-Klux-Klan musste. Er sieht, dass auf dem Schoß seines Vaters eine Pistole liegt, als sie sich nähern. Am Checkpoint gibt sein Vater Gas. „Vielleicht ist dieser Roman die Pistole auf meinem Schoß.“

Es ist eine verflixt scharfe Pistole. Seite um Seite lädt Everett nach, lässt diese Rache-Fantasie eskalieren, lässt die Gewalt bald nicht mehr nur in Money, sondern auch in immer mehr Städten der USA aufflammen, lässt wütende Mobs über Weiße herfallen, töten. Und töten.

Die satirische Überspitzung macht klar, wie viele Gründe die nicht-weißen US-Amerikaner und -Amerikanerinnen haben, ein Auge für ein Auge, einen Stacheldraht um den Hals für einen Lynchmord zu fordern. Percival Everett will unterhalten, dass es zum Kichern ist. Und schon ein paar Zeilen später ist es natürlich gar nicht mehr zum Kichern – sondern zum Schämen. Und zum Erschrecken, denn keineswegs ist es ja vorbei mit dem Rassismus.

Auch interessant

Kommentare