Pascale Hugues: „Mädchenschule“ – „Sei wie das Veilchen im Moose, / sittsam bescheiden und rein“

Pascale Hugues hat Mitschülerinnen gesucht, die ihr 1968 ins Poesiealbum schrieben, und entwickelt daraus ein Generationenporträt. Von Marlies Müller
Ein Poesiealbum scheint im Straßburg des Jahres 1968 nur noch von deutschen Großmüttern verschenkt worden zu sein. So kam Pascale Hugues im Alter von neun Jahren an ein solches Buch, in das im Folgenden ausgesuchte Mitschülerinnen, dazu ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Lieblingslehrerin, jene Einträge machten, die erst viel später allmählich dann doch aus der Mode kamen. „Sei wie das Veilchen im Moose, / sittsam, bescheiden und rein / und nicht wie die stolze Rose, / die immer bewundert will sein“, denn die Übersetzerin Lis Künzli greift zu Recht ins deutsche Repertoire, das sich vom französischen in der Sache nicht zu unterscheiden scheint. So arglos die Kinder, die sie abschreiben, so knallkonservativ die nicht nur in diesen Versen gerne durch die Blumen gesagten Vorschriften für Mädchen.
1968 setzen sich auch in Frankreich, auch in Straßburg die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Selbstverständlichkeiten in Bewegung. Obwohl die Erwachsenen und zum Teil sogar die Kinder spüren, dass die Philosophie des Poesiealbums an ihr Ende kommt – „sittsam, bescheiden und rein“ –, transportieren sie sie doch weiter. Wir können aus eigener Anschauung bestätigen, dass noch zehn Jahre später dieselben Sprüche in die gleichen Poesiealben geschrieben wurden. Denn auch Poesiealben gab es noch lange. Obwohl die Mutter von Pascale das schon damals furchtbar findet.
Die Schriftstellerin und Journalistin Pascale Hugues, die heute in Berlin lebt, wundert sich selbst darüber, warum und wie ihr Poesiealbum all die Jahrzehnte überstanden hat. Da steht es jedenfalls im Regal in ihrer Wohnung, sie zieht es heraus, nachdem sie ein altes Klassenfoto betrachtet und zu ihrem Erstaunen alle Mädchen gleich erkannt hat, und kommt auf eine interessante Buchidee: Sie versucht, die Frauen ausfindig zu machen, die damals als Neunjährige ins Album geschrieben haben, trifft sich mit ihnen, spricht mit ihnen über damals, über ihr Leben und ihre Vorstellungen. Und entwickelt daraus eine Art Gruppenbild mit Schriftstellerin. Sich selbst herauszuhalten, war zwar ihr Ziel, das gelingt aber nicht.
Das Buch
Pascale Hugues: Mädchenschule. Porträt einer Frauengeneration. Rowohlt. 302 S., 20 Euro.
Die ehemaligen Mitschülerinnen bleiben dabei Individuen, über die – in ihren Worten, aber auch in Pascale Hugues’ – so viel zu erfahren ist, dass es beim Lesen spannend und für die Frauen offenbar noch in Ordnung war. Zugleich erscheint das Gruppenbild darüber hinaus spezifisch für eine Zeit, einen Ort und eine Schule, eine Mädchenschule im Stadtteil Krutenau, die von vielen Arbeiterkindern besucht wird, etliche Eltern kommen aus Spanien, Italien, Nordafrika. Man begreift nebenbei, wie das Elsass in den 60ern noch ein verunsichertes Stück Frankreich ist, das sich außen vor fühlt und in dem der Dialekt eine große Rolle spielt. Der Krieg ist nicht so lange her. Die französische Sprache, schreibt Hugues, sei für die wenigsten Kinder in der Grundschulklasse eine Selbstverständlichkeit gewesen.
Im Zentrum aber die Frauenbiografien: Mädchen, deren Mütter in schwierigen Lebenssituationen feststecken. Waschmaschine oder Kühlschrank, das ist auch die Wahl, vor die der Mann der Lehrerin seine Frau stellt. Sie entscheidet sich für die Waschmaschine und bereut es nicht. Ein Badezimmer zu haben, ist eine große Sache. Pascale, aus gutem Hause, wird mehr beneidet, als ihr damals bewusst ist. Sie war auch bornierter (stellt sie fest), als ihr heute bewusst ist.
Die dramatischen Klassenunterschiede bleiben im Verlauf der Biografien relevant. Roseline, eine sehr gute Schülerin, deren Mutter nicht begreift, warum ihre Tochter Abitur machen sollte, stellt später fest, dass die Mutter ein Stipendium der Tochter für den Hausbau der Familie ausgibt. Mit einer Freundin zusammen schreibt Roseline ein Buch ab, das sie für die Schule braucht. „Doch als der Lehrer es merkte, sagte er, das gehe nicht. Wir bräuchten das Buch. Dafür sei das Stipendium da. Ich war siebzehn und schämte mich in Grund und Boden.“ Die Mutter der Spanierin Pilar, die nicht lesen und schreiben kann, setzt sich solidarisch zur Tochter, als diese es lernt. Pilar bringt ihr später bei, „ihren Namen unter die Formulare zu setzen. Sie sollte sich auf gar keinen Fall durch das Zeichnen eines Kreuzes demütigen“.
Aufstiege gelingen, aber sie sind nicht die Regel. Am Ende der Neunten sind die letzten Mädchen aus der alten Klasse weg. „Von da an waren wir unter uns, die Kinder von Ärzten, Geschäftsleuten, Lehrern und Führungskräften.“ In der Gegenwart finden sich die Frauen unterschiedlich gut zurecht. Es werden nicht nur reflektierte Dinge gesagt, Hugues setzt klug und mit journalistischem Geschick auf charakteristische Schlaglichter.
Dass „Mädchenschule“ nicht nur (Frauen wie Männer) zum Nachdenken über die eigene Biografie herausfordert, sondern auch den permanenten Vergleich zum neuen Jahrtausend nahelegt, versteht sich von selbst. Hugues verliert darüber also kein Wort, liefert Geschichten und Gedanken an, lässt dann Platz.