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„Der Orient ist kein Singular“

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Von: Arno Widmann

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Ein Zeichen der Hoffnung: Übersetzerin Claudia Ott über die Erzählungen von „Tausendundeiner Nacht“ und über eine jahrtausendelange Freude am Sammeln und Integrieren.

Frau Ott, was war das für eine Flöte, auf der Sie neulich bei der Vorstellung Ihrer Übersetzung „Tausendundeine Nacht. Das glückliche Ende“ spielten ?
Ich hole sie Ihnen… Schauen Sie. Eine Nay. Genauer gesagt, eine Ney, die türkische Variante der Rohrflöte. Dieses Detail ist nicht unwichtig, denn die Handschrift, die ich diesmal übersetzt habe, wird ja seit über 250 Jahren in der Türkei aufbewahrt, nämlich in Kayseri mitten in Anatolien. Deshalb passt zu ihr ein türkisches Instrument und osmanische beziehungsweise anatolische Musik. Doch die arabische Nay, die ich gelernt habe, ist im Prinzip genau gleich aufgebaut. Ein einfaches Schilfrohr. Sie sehen hier die Wachstumsknoten. Da kommen bei der lebenden Pflanze die Blätter heraus. Der Flötenbauer geht durchs Schilf, findet, dass bei einem der Halme die Abstände zwischen den Segmenten genau richtig sind. Das Rohr schneidet er ab und macht daraus eine Flöte. Die islamischen Mystiker haben immer wieder den Klang der Flöte mit der menschlichen Seele verglichen. Wie die Seele sich nach Gott sehne, so rufe die Flöte nach ihrer Wurzel, von der sie abgeschnitten worden sei.

Gibt es nicht auch den umgekehrten Gedanken: Wie das Schilfrohr von seiner irdischen Wurzel befreit werde, also sterben müsse, um so himmlisch klingen zu können, so müsse das auch der Mensch, um zu Gott zu gelangen?
Was für ein schöner Gedanke! Aber die islamischen Mystiker beschreiben den Zustand des Verlangens, den der Sehnsucht nach Vollendung, nicht diese selbst. Sie sind damit näher am Klang der Flöte. Die Flöte spielt ja keine Himmelsmusik, sondern sie steht gewissermaßen im Schilf und sehnt sich mit all den anderen Rohren nach Gott, nach der Vereinigung mit dem Schöpfer. Wie die Seelen der Menschen das tun. Die eine kann sich schöner sehnen und die andere weniger schön. Darum ist die Rohrflöte auch das einzige Instrument der religiösen Musik des Islam. Die übrigen, viel bekannteren arabischen Melodieinstrumente wie Laute oder Zither werden der „musiqa“, der weltlichen arabischen Musik, zugeordnet. Sie sehen, der Begriff wurde aus dem Griechischen übernommen. Die „musiqa“-Instrumente gehörten ins Kaffeehaus, nicht in ein Sufi-Konvent.

Sie kamen spät zur Musik?
Nein. Ich wollte ursprünglich Flötistin werden. Das hat als Jugendliche nicht geklappt und ich ging dann nach meinem Schulabschluss erst einmal nach Jerusalem, also gewissermaßen in den Orient, um mich zu orientieren. Mein Geld verdiente ich dort als Musiklehrerin. Unter anderem unterrichtete ich einen fünfjährigen Jungen, den Sohn eines bekannten palästinensischen Liedermachers. Der saß, während ich mich mit seinem – nicht sehr begeisterten – Sohn, der allerdings inzwischen auch Musiker geworden ist, an der Blockflöte abmühte, im Nebenzimmer und hörte mich dem Jungen ab und zu mal etwas vorspielen. Nach einer Weile fragte mich der Vater, ob ich nicht in sein Ensemble einsteigen würde, und bat mich, für eine Tournee seine Texte ins Deutsche zu übersetzen. Das war 1987. Ich lehnte damals ab. Lyrik übersetzen. Das ist das Schwierigste überhaupt, die Königsdisziplin für Übersetzer. Ich war erst im zweiten Semester Arabisch, und die Texte waren palästinensische Lyrik vom Feinsten, von Dichtern wie Mahmud Darwisch, Fadwa Tuqan, um nur einige zu nennen! Aber ich versprach dem Liedermacher damals, dass ich seine Texte übersetzen würde, sobald ich das Gefühl hätte, ich könnte mich daran wagen. Dieses Versprechen ist mir im Lauf der Zeit sehr wichtig geworden, ja es war manchmal meine Rettung. Wann immer ich mein Studium aufgeben wollte, machte ich weiter, weil ich halten wollte, was ich versprochen hatte.

Sie können viele Sprachen?
Sagen wir so: Ich habe viele Sprachen mehr oder weniger intensiv studiert: Hebräisch, Arabisch, Persisch, Aramäisch, Amharisch, Türkisch, Paschto. Bis auf Arabisch habe ich alles vergessen. Aber mein Deutsch ist viel besser geworden. Deutsch habe ich durchs Übersetzen gelernt.

In Ihrer Dissertation „Metamorphosen des Epos“ – ich habe sie nicht gelesen – geht es, soweit ich sehe, um das Wechselspiel von schriftlicher und mündlicher Überlieferung bei Erzählungen. Damit sind wir schon mittendrin in „Tausendundeiner Nacht“. Das Buch ist ja auch kein Buch. Es speist sich aus zig Quellen. Es hat keinen Autor.
Die arabische Literatur liebt die Anthologie. Das Zusammenstellen wurde – ähnlich wie heute wieder – hoch geachtet. Stolz setzten die Sammler ihre Namen unter ihre Anthologien, die dann als die Werke dieser Männer bekannt wurden. Auch „Tausendundeine Nacht“ ist im Prinzip eine Anthologie. Aber keine der uns bekannten Fassungen trägt den Namen irgendeines Sammlers. Allen war klar: „Tausendundeine Nacht“ war nicht nur nicht das Werk eines Autors. Es war noch nicht einmal das Werk eines einzigen Kompilators. Was wir heute in der Hand haben als „Tausendundeine Nacht“, ist das Produkt eines zweitausendjährigen Literaturtransfers. Wir sind fasziniert von den orientalischen Geschichten. Aber das waren schon die Perser des dritten und vierten Jahrhunderts. Ihr Orient, aus dem viele der Geschichten von „Tausendundeiner Nacht“ kommen, war Indien. Im 8. Jahrhundert entdeckten die Araber Persien als ihren Orient und übersetzten die persischen Geschichten, die schon auf indischen, ja chinesischen Quellen beruhten, ins Arabische. Zwischen 1704 und 1706 erschien Antoine Gallands Übersetzung der arabischen Fassung ins Französische. Sie wiederum wurde in die wichtigsten europäischen Sprachen übertragen. Ein immer wieder neues, sich immer wieder neu an immer wieder neuen Orients sich begeisterndes Publikum. Der Orient ist eben kein Singular.

Und wie gehen Sie mit dieser Vielfalt um?
Ich übersetze nur die ältesten arabischen Originale und übergehe damit die kanonisch gewordene Gesamtfassung, die um ca. 1800 in Kairo entstand und von der es schon viele Übersetzungen gibt, auch ins Deutsche. „Meine“ Handschriften sind alle um ca. 1500 geschrieben worden oder kurz danach, auf jeden Fall vor 1704, dem Datum, mit dem die europäische Überlieferung einsetzte. Aber die alten arabischen Handschriften von „Tausendundeine Nacht“ sind alle nur Fragmente. Noch dazu sind sie sehr heterogen und ergeben keine kohärente Kette, keinen vollständigen Text von 1 bis 1001. Nun, wie gehe ich damit um? Ich habe mir vorgenommen, jeder einzelnen Handschrift ihr Recht zu verschaffen, indem ich ihr ein eigenes Buch widme und sie in ihrer Originalität stehen lasse – sprachlich, überlieferungsmäßig, philologisch. Das geht ziemlich langsam und in kleinen Schritten. Das erste Buch von „Tausendundeine Nacht“ kam ja schon 2004 auf den Markt. 2012 erschien meine Übertragung einer mittelalterlichen andalusisch-arabischen Handschrift des Aga Khan Museums, die den Titel „Hundertundeine Nacht“ trägt, die „Kleine Schwester von Tausendundeine Nacht“. Und im Februar erschien jetzt „Das glückliche Ende“. Das ist wieder die Übersetzung einer ganz bestimmten, individuellen Handschrift.

Aber es ist eine Handschrift, die es so nicht gibt. Mussten Sie sie nicht ganz neu erfinden?
Ich habe nichts weggelassen und nichts hinzu erfunden – bis auf die Geschichtentitel, denn arabische Originalfassungen von „Tausendundeine Nacht“ sind stets nur nach Nächten eingeteilt, nicht nach Geschichten. Alle anderen Eingriffe, die ich als Philologin machen musste, kann ein des Arabischen Kundiger sofort nachvollziehen, denn die Handschrift ist seit drei Jahren im Netz verfügbar und kann von jedem Computer der Welt aus eingesehen werden. Was Sie mit Ihrer Frage wahrscheinlich meinen ist, dass die Kayseri-Handschrift tatsächlich der Wissenschaft seit langem Rätsel aufgegeben hat. Zunächst mal, weil sie unvollendet blieb. Sie können das sehr leicht daran erkennen, dass die Plätze, an denen zum Beispiel „die 922. Nacht“, „die 948. Nacht“ stehen sollte, freigelassen wurden und immer noch leer sind. Vorgesehen war, wie auch sonst in Handschriften, dass solche und andere Überschriften in einem weiteren Arbeitsgang in roter Tinte und etwas größerer Schrift hinzugefügt werden sollten. Doch dazu kam es nicht mehr. Die 152 Blätter müssen ziemlich lange ungeordnet herumgelegen haben, bevor sie willkürlich und ahnungslos in drei Hefte gebunden wurden. Die kamen in einen Schuber, auf den schrieb ein Bibliothekar den falschen Titel „Abhandlung über die Tücke der Weiber“. Und so kamen die drei Hefte, aus denen die Handschrift besteht, in die Privatbibliothek von Rasit Efendi, eines Sekretärs des osmanischen Sultans im 18. Jahrhundert. 1796 stiftete dieser Sekretär die wunderschöne, kleine aber feine Rasit-Efendi-Bibliothek für die Stadt Kayseri, seine Heimatstadt. 925 arabische Manuskripte aus seiner Privatsammlung schickte er als Grundstock in die neu erbaute Bibliothek. Und darunter war auch unsere Kayseri-Handschrift von „Tausendundeine Nacht“.

Und Sie fanden sie dort?
Oh nein, das haben andere vor mir getan. Die Kayseri-Handschrift war Spezialisten seit Langem bekannt. Schon 1949 hat der deutsche Arabist Hellmut Ritter sie beschrieben und auch bereits als Teil von „Tausendundeiner Nacht“ identifiziert. Aber als ich in der Bibliothek war und die Handschrift an ihrem Originalstandort besuchte, war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich hatte den Eindruck, dass die Handschrift exakt an der Stelle im Schrank stand, an die sie Ritter zurückgestellt hatte. Obwohl das natürlich nicht sein kann.

Wurden die Geschichten auf Bazaren erzählt und wanderten sie so von Sprache zu Sprache oder wanderten auch Manuskripte?
Natürlich besitzt jede Geschichte einen mündlichen Kern. Aber die meisten Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“ stehen in einer langen schriftlichen Tradition. Man muss unterscheiden: Es gibt einerseits die Rahmenerzählung von Schahrasad, der Tochter des Wesirs, die jede Nacht König Schahriyar eine so spannende Geschichte erzählt, dass er nicht einschlafen kann. Am Morgen sorgt sie dann für einen Cliffhanger, der den König die nächste Nacht herbeiwünschen lässt, weil er die Fortsetzung hören möchte. Erzählend, spannend erzählend überlebt Schahrasad. Der König, der sonst jede Frau umbrachte, nachdem er eine Nacht mit ihr verbracht hatte, kommt 1001 Nächte nicht los von ihr. Schahrasad humanisiert den Herrscher durch die Kunst der Erzählung.

Am Schluss, in dem von Ihnen entdeckten Schluss, erzählt sie ihm ihre Geschichte. Sie siedelt sie in China an. Aber der König erkennt sich in ihr und lässt daraufhin ab von seiner Grausamkeit.
Das ist doch großartig! Das ist der Traum eines jeden Präsidentenberaters. Das ist die Rahmengeschichte. Und sie wirkte wie ein Geschichtenmagnet. Mehrere hundert, oft ineinander verschachtelte Einzelerzählungen sammelten sich in ihr an. Diese Binnenerzählungen wurden nicht alle mit gleicher Sorgfalt geschrieben. Das wäre auch langweilig gewesen. Es lösen sich kurze und lange Stücke ab, es gibt Kriminal- und Liebesgeschichten, es gibt solche von fliegenden Pferden und Meeresnixen, es gibt Deftiges und Zartes, Realistisches und Fantastisches. Es gibt kurze Witze und lange, mäandernde Erzählungen. Was Sie mögen und was Sie nicht mögen. Für jeden etwas. Manchmal wurden Geschichten aus anderen Sammlungen einfach abgeschrieben. Dabei wurden sie verändert und sie veränderten „Tausendundeine Nacht“. Integration, wie sie sein soll. Hier ist es die Integration von Texten. Es war wichtig, dass die Geschichten aus unterschiedlichen Kulturen kamen, aus unterschiedlichen Zeitaltern, das machte die große Erzählung abwechslungsreicher. Es war auch wichtig, dass es neben den ganz vertrauten Situationen auch Schilderungen aus exotischen Gegenden gab. Nicht nur, weil das Buch so welthaltiger wurde, sondern weil man ferner Spiegel bedarf, um die eigene Situation zu erkennen. Das macht das in der Kayseri-Handschrift überlieferte „Glückliche Ende“ von „Tausendundeiner Nacht“ deutlich. Der König erkennt sich erst in einer chinesischen Geschichte über den König von Samarkand, den Bruder des Königs von China. Erst im äußersten damals bekannten Orient findet der König sich selbst und damit findet die grausame Geschichte von „Tausendundeiner Nacht“ ihr Ende.

Wie frei ist Ihre Übersetzung?
Warten Sie, ich hole die Manuskriptbände, da können Sie genau sehen, wie ich arbeite. Zunächst habe ich mir die arabische Fassung aus der digitalen Fotodatei der Bibliothek ausgedruckt, übrigens in hervorragender Qualität. Sie steht hier links. Rechts daneben habe ich mir jeweils eine leere Seite einbinden lassen, damit ich dort die Vorbereitungsarbeiten für die deutsche Übersetzung niederschreiben konnte, die ich Vorübersetzung nenne. Hier der zweite Band, der doppelt so dick und so schwer ist wie der erste, enthält die Rohübersetzung in zwei verschiedenen Farben: Grün für meine Erstschrift, rot für die Kommentare und Korrekturen, die ich durch die Anregung meiner Übersetzergruppe erhielt. Der Blankoband kommt übrigens auch aus der Türkei. Ein Druckereibesitzer hat ihn extra für mich angefertigt, mit 1001 Blatt Schreibpapier, magnetischer Klappe und marmoriertem Vorsatzpapier. Ich habe zwei Jahre lang täglich in dieses Buch hineingeschrieben und mich dabei jeden Tag gefreut.

Das ist ja ein Kunstwerk! Schreiben Sie alles mit der Hand?
Ja, das dauert länger, aber so überlege ich genauer. Ich brauche das. Das handgeschriebene Buch wird auch bald öffentlich zugänglich sein. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach wird bereits das Manuskript des ersten Buchs der „Tausendundeine Nacht“-Neuübersetzung aufbewahrt.

Sieben Mal sind Sie Ihre Übersetzung durchgegangen, bevor sie an den Verlag ging.
Das stimmt nicht ganz. Mein Lektor hat zwei Jahre lang jede Woche eine Geschichte zu lesen bekommen, insofern war der Verlag von Anfang an dabei. Aber ich gehe tatsächlich in sieben Übersetzungsschritten vor. Zu diesen Überarbeitungen gehört, dass ich die Rohübersetzung einem Kreis von erfahrenen Freundinnen und Freunden vortrage. Dabei fallen ihnen – oder mir schon selbst – Umständlichkeiten, Steifheiten auf, die die Schriftlichkeit so mit sich bringt. Die sind dem arabischen Original meist fremd. Die Herstellung der Illusion der Mündlichkeit war ja eine der Hauptaufgaben beim Einpassen der überkommenen Literatur in den großen Fluss von „Tausendundeiner Nacht“. Meine Freunde weisen mich auf vieles hin, das ich übersehen habe. Das Ergebnis dieser Verbesserungen ist immer, dass ich dem Original wieder näherkomme. Daneben arbeite ich an dem Glossar. Dort werden alle Begriffe und Namen, die ich nicht übersetze, erklärt. Schahrasad zum Beispiel klang für die Araber so exotisch wie für uns. Der Klang des Namens allein vermittelte schon den Zauber des Orients. Er kommt aus dem Persischen und bedeutet „die Glanzgeborene“.

Sie haben aber zum Beispiel Allah durch Gott ersetzt.
Allah ist Gott. Wenn wir Allah nicht übersetzen, tun wir so, als sei es ein Name. Das ist das Wort Allah aber nicht. Allah ist arabisch und heißt auf deutsch Gott. Eine wesentliche Voraussetzung des weltumspannenden Reichtums der Erzählungen von „Tausendundeiner Nacht“ ist dieser eine universale Gott, der das Ganze und alles Einzelne bewegt.

Und was ist das hier, die Bleistiftnotizen mit den vielen Zahlen und dem Strich?
Das ist ein anderes, früheres Stadium der Übersetzung. Links von dem Strich stehen alle textkritischen Fragen. Also alles, was sich auf die Herstellung eines übersetzungsfähigen arabischen Texts bezieht. Hier zum Beispiel, in Zeile 6 – die Zahlen bezeichnen die Zeilennummern des Originals – fehlt im arabischen Text der eigentlich nötige Artikel. Das ist zwar eine Kleinigkeit, aber ich notiere sie mir, weil ich beim Übersetzen ja an dieser Stelle vom Text der Handschrift abweiche. Das ist übrigens eine der Stellen, an denen man glaubt, den Schreiber bei einem Flüchtigkeitsfehler beim Abschreiben zu erwischen. Manchmal hat er, so kann man durch Vergleiche mit anderen Überlieferungen derselben Erzählung feststellen, aus Versehen eine Zeile übersprungen. Rechts vom Strich stehen die Fragen nach dem Sinn der arabischen Wörter und Wendungen. Da sehen Sie dann auch schon erste Übersetzungssplitter. Manchmal auch gleich ein paar Varianten derselben Wendung. Zum Beispiel hier. „Schlag dir die Sache mit mir aus dem Kopf“ oder „Zerbrich dir nicht den Kopf meinetwegen“.

Schrecklich!
Wieso?

Das ist ja Arbeit! Richtige Arbeit. Die fertige Übersetzung hat dann bloß 355 Seiten.
Es ist eine wunderbare Arbeit. Ich bin glücklich, wenn ich eine Parallelstelle finde, die mir erklärt, was an einer bestimmten mir rätselhaften Passage meiner Handschrift gemeint ist. Aber ich liebe auch das Nachschlagen. Sonst könnte ich diese Arbeit nicht machen. Von wegen „schrecklich“! Ich habe Glück. Sehen Sie hier zum Beispiel dieses Gedicht am Ende der neunhundertundzehnten Nacht: „Wenn jemand, der Hilfe braucht, als Bittsteller zu dir kommt,/ So gilt das als Gnade Gottes und als willkomm’ne Pflicht./ Verweigere deine Hilfe keinem Bedürftigen,/ Denn wann du selbst hilfsbedürftig sein wirst, das weißt du nicht.“ Ist das nicht überraschend aktuell? Aber jetzt gucken Sie mal, was ich hierfür erstmal tun musste. In der Kayseri-Handschrift fehlt der letzte Vers. Der ist aber die Pointe des Zitats. Ich habe lange in der arabischen Literatur nach diesem Gedicht gesucht. Dann fand ich es und fand es einen Vers länger als in der Handschrift. Ich glaube nicht, dass das Weglassen des letzten Verses auf einer bewussten Entscheidung des Schreibers beruht. Ich glaube, es ist eine Schludrigkeit, ein Abschreibfehler. Den habe ich in der Übersetzung korrigiert. Kommentarlos. An solchen Stellen nehme ich mir die Freiheit, von der Handschrift abzuweichen. Natürlich habe ich mir notiert, wo ich das Gedicht fand. Aber in der gedruckten Übersetzung fehlen diese philologischen Querverweise.

Die Übersetzung von Antoine Galland schlug schon im 18. Jahrhundert riesige Wellen in der europäischen Literatur. Gibt es heute Autoren, die auf Ihre Übersetzung Bezug nehmen?
Ich übersetze nicht, um auf die deutsche Gegenwartsliteratur Einfluss zu nehmen. Ich übersetze, weil ich mich an den arabischen Texten erfreue, weil das Übersetzen mir Spaß macht und weil ich meine Freude über die arabischen Texte mit anderen teilen möchte. Aber natürlich freue ich mich über Resonanz. Ich freue mich über die vielen Leser meiner Bücher, die vielen Besucher meiner Veranstaltungen. Zu den schönsten Nebenwirkungen meiner Arbeit gehören Briefe wie die von Ulrike Draesner, Thomas Lehr und Ingo Schulze. Alle drei Autoren ließen mich wissen: Sehen Sie, das hier habe ich dank Ihrer Übersetzung geschrieben.

Sie sitzen an Ihrer Übersetzung von „Tausendundeiner Nacht“ und gleichzeitig kommen viele der Orte, die in den Erzählungen eine Rolle spielen, täglich in den Nachrichten vor…
Das ist sehr schwer auszuhalten. Natürlich ist für die Menschen, die aus Syrien vertrieben werden, die Heimatlosigkeit und die Zerstörung ihrer Heimat noch schwerer zu ertragen. Aber ich empfinde die Geschichten von „Tausendundeiner Nacht“ und auch meine Übersetzungsarbeit durchaus als eine Art Trostmittel. Es kann uns Wege hinaus aus der Katastrophe zu anderen möglichen Welten weisen. Den Markt von Aleppo, vom dem in „Tausendundeiner Nacht“ die Rede ist, gibt es nicht mehr. Aber bei der Vorstellung des neuen Buches im Pergamonmuseum sprach ich mit einem Berliner Museumsdirektor, der selbst aus Aleppo stammt. Er kam vor vierzig Jahren nach Deutschland. Jetzt ist er damit beschäftigt, den Wiederaufbau von Aleppo zu planen. Vielleicht wird es eines Tages auch den Markt aus „Tausendundeiner Nacht“ wieder geben. Es gibt Hoffnung. Aber es gibt sie nur, wenn wir sie nicht aufgeben.

Interview: Arno Widmann

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