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Offene Herzen

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Auf Expedition: Leslie Jamison.
Auf Expedition: Leslie Jamison. © Colleen Kinder

Der Schmerz der anderen: Die Amerikanerin Leslie Jamison legt riskante Essays über Empathie vor.

Von Ruth Fühner

Dies ist ein schillerndes Buch. Verletzlich und kühl, bohrend und sprunghaft. Eines, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. Das dazu antreibt, über die eigenen Grenzen hinauszudenken. Versammelt sind in „Die Empathie-Tests“ Essays, die Leslie Jamison in verschiedenen US-Magazinen veröffentlicht hat. Es sind Reportagereisen auf vermintes Gebiet, in Zonen extremer Erfahrung, zwischen Narzissmus und Voyeurismus.

Jamison erzählt aus Südamerika, wo die alltägliche Gewalt die Menschen zum Verstummen gebracht hat. Von beredten Selbsthilfeaktivisten, denen wimmelnde Lebewesen unter der Haut das Leben zur Hölle machen, und von Marathon-Masochisten. Sie analysiert TV-Reality-Shows, die das Elend Drogenabhängiger in Wohlfühl-Dramaturgie verpacken, sie verteidigt die Sentimentalität, und sie arbeitet sich ab am kulturellen Nexus von Schmerz und Weiblichkeit.

Der Schmerz ist ihr zentrales Thema, der eigene, aber vor allem der fremde. Testfälle für die Empathie: Was bedeutet Einfühlung in Menschen, die schlimmstenfalls als Spinner gelten und bestenfalls als Psychosomatiker, deren blutig aufgekratzte Haut aber die Wahrheit ihres Leidens dokumentiert? Was hat eine Touristin auf Stippvisite den von Drogenkartellen terrorisierten Mexikanern anderes zu bieten als die „selbstreflexive Seelenpein“ einer Privilegierten? Wie zurechtkommen mit den widersprüchlichen Gefühlen gegenüber vielleicht unschuldig wegen Mordes verurteilten Teenagern, mit dem Schlingern zwischen Mitleid, der Vorstellung, dass sie es doch gewesen sein könnten, und dem Generalverdacht gegenüber einem Justizsystem, das nicht wirklich an der Wahrheit interessiert ist? Kurz: Wie kann man über das Leiden anderer sprechen oder schreiben, ohne es an Zynismus oder Ironie zu verraten?

Jamison macht sich den Weg zu ihrer Antwort nicht einfach. Sie misstraut den mächtigen Rhetoriken – dem Melodrama, das den Schmerz gefühlig ausstellt, ebenso wie dem Sarkasmus, der ihn abwertet. Ihre Essays spiegeln das in ihrer absichtlichen Zerrissenheit, in einer herausfordernden Mischung aus Reportage, Autobiographie und Kulturtheorie. In einer ihrer gewagtesten Volten greift Jamison zur Ehrenrettung des (Betroffenheits-)Kitsches. Oscar Wildes Vorwurf an die Sentimentalität, sie begehre den Luxus eines Gefühls, ohne dafür zu zahlen, wendet sie um und um – und baut gleich noch eine Kulturgeschichte des Süßstoffs mit ein.

Dient die Ablehnung des Süßlichen nicht bloß als eitler Beweis intellektueller Überlegenheit? Was bringt es, das Urteilsvermögen an die Stelle der Empathie zu setzen? Mehr als postmoderne Ironie und eine Distanz, die schnell in Grausamkeit mündet?

Es ist eine selbstquälerische Expedition, auf die sich Jamison begibt. Und bei der sie die problematische Verbindung Körper und Frau (vs. Mann/Geist) implizit fortschreibt. Angetrieben vom notorischen Schuldgefühl der Mittelschicht und (protestantischem) Selbsterkundungszwang, begibt sie sich sehenden Auges in eine Zwickmühle: Sie habe genug vom (weiblichen) Schmerz, schreibt sie – aber auch von Leuten, die davon genug haben.

Die Autorin weiß, was weh tut. Eine Abtreibung, eine Herz-OP, eine eingeschlagene Nase, Liebeskummer. Sie schreibt auch am eigenen, geritzten Körper entlang, kennt die Wonnen des Selbstmitleids und die bittere Selbstverachtung. Schmerz ist ihr aber auch ein legitimes Mittel der Grenzüberschreitung – bis hin zum lustvollen „Verlust des Verstandes, und zwar im vollen Wortsinn“.

Am entscheidenden Punkt aber macht Leslie Jamison – enttäuschender- oder bezeichnenderweise? – Halt: Da, wo es um das Verhältnis von Empathie und moralischer Praxis geht. Susan Sontag – mit der sie sich zum Teil explizit auseinandersetzt – hatte in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“ darauf beharrt, dass die Konfrontation mit fremdem Schmerz in der Kriegsfotografie legitim sei, sofern sie in den Impuls zu handeln münde. Und immer wieder betonen Skeptiker, dass das wärmende Gefühl der Mitmenschlichkeit zumindest der Flankierung bedarf durch die Kühle rationaler moralischer Verpflichtung und Verantwortung.

Jamisons riskante, streckenweise virtuose Untersuchungen hingegen laufen auf einen anderen Schluss zu. Mag ihr Bohren in der Wunde dem amerikanischen Selbstoptimierungswahn die Stirn bieten – am Ende steht ein auch wieder sehr amerikanischer Befreiungsschlag. „Schmerz, der abgedroschen klingt, ist immer noch Schmerz. Der Vorwurf des Klischees und der Theatralik bieten unseren verschlossenen Herzen zu viele Alibis, und ich will, dass unsere Herzen offen sind. Da steht es jetzt. Ich will, dass unsere Herzen offen sind. Genau so.“

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