Autorin aus Georgien zum Ukraine-Krieg: „Jetzt erst begreift der Westen“

Die Autorin Nino Haratischwili spricht über den Krieg in Georgien und den in der Ukraine. Vieles, was dort passiert, ist ihr vertraut.
Frau Haratischwili, am Tag, nachdem die ersten Bomben auf Kiew gefallen sind, erschien Ihr Roman „Das mangelnde Licht“. Sie beschreiben darin die selbst erlebte Kriegszeit in Georgien während der 90er Jahre. Heute, 30 Jahre später, ist es erschütternd zu erkennen, wie sich Ereignisse zu wiederholen scheinen. Wieder rollen russische Panzer über die Grenze eines Nachbarstaates, wieder wird die Unabhängigkeit einer Gesellschaft gewaltsam bedroht. Wie erleben Sie diesen neuen Krieg?
Ich bin wütend über diese Entwicklung, die man hier lange Zeit nicht so deutlich wahrgenommen hat. Georgien und Tschetschenien waren weit weg, Syrien ebenso, der Krim-Krieg ist in den westlichen Medien nahezu untergegangen. Jetzt jedoch sind die grausamen Ereignisse unmittelbar präsent, keine Propaganda und keine Lüge kann das mehr kaschieren. Jetzt begreift die westliche Welt, dass es sich ganz klar um einen Krieg handelt, in dem ein Land ein anderes Land besetzt. Es ist derart augenscheinlich, dass man nichts anderes mehr sagen kann.
Im Roman stellen Sie die Frage: Was ist wichtiger zu erzählen, die Geschichte der Verräter oder die der Verratenen?
Ich glaube, sowohl als auch. Wenn ich eine Geschichte erzähle, dann ist es mir wichtig, sie so komplex wie möglich zu gestalten, das ist die Chance des Schreibens. Im Alltag betrachte ich die Dinge auf subjektive Art, ich kann nicht aus meiner Haut heraus, wenn ich aber schreibe, dann habe ich diese nötige Distanz, um ein Ereignis aus verschiedenen Winkeln heraus zu begutachten, das Wichtigste ist dann, dass man nicht wertet. Gerade, wenn es sich um komplexe Zusammenhänge handelt, in denen – wie im Buch – politisches Chaos stattfindet, dann verschwimmen diese Grenzen zwischen schlecht und gut, weil diese moralischen, ethischen Aspekte plötzlich ins Wanken geraten und Menschen nur noch um ihr Überleben kämpfen. Es geht um die Existenz, dennoch gibt es Personen, die in einer solchen Zeit versuchen, menschlich zu bleiben. Andere hingegen tun plötzlich Dinge, die man sich vorher nicht vorstellen konnte. Was ist es jedoch, was manche Menschen dazu bewegt, unter diesen grausamen Umständen richtig zu handeln und warum werden andere, die vorher auch keine Monster waren, plötzlich zu Monstern mutieren?
Russlands Methoden im Ukraine-Krieg – Unabhängigkeitskampf in Georgien
Sie beschreiben auch, wie sich Russland im Unabhängigkeitskampf der Abchasier auf deren Seite stellt und – ähnlich wie in Donbass/Lugansk – behauptet, die russische Minderheit schützen zu wollen. Es wurden dort u. a. russische Pässe verteilt und die Abchasier mit Waffen versorgt. In Georgien bricht im Streit über die „nationale Frage“ ein Bürgerkrieg aus. Wenn ich das Buch heute lese, neige ich dazu, es auf die Lage in der Ukraine zu beziehen. Ist das legitim? Wie eng sind diese beiden Geschichten verbunden?
Schwierige Frage, weil ich es natürlich bei allen Parallelen, die es zwischen der Ukraine und Georgien auch geschichtlich gibt, anmaßend fände zu sagen, ich kann mich in die ukrainische Bevölkerung eins zu eins hineinversetzen. Ich würde behaupten, dass mir vieles, was dort geschieht, vertraut ist, dennoch handelt es sich um eine andere Zeit und vielleicht auch um eine andere Form von Gewalteskalation.
Zur Person
Nino Haratischwili , geboren 1983 in Tiflis, ist Regisseurin, Dramatikerin und Schriftstellerin. Mit dem Roman „Die Katze und der General“ stand sie 2018 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Gerade erschienen ist in der Frankfurter Verlagsanstalt ihr jüngster Roman „Das mangelnde Licht“ (Besprechung folgt)
In Ihrer Beschreibung der georgischen Gesellschaft erscheint vor allem das Wirken der Männer destruktiv. Welche Gründe sehen Sie hierfür?
Die Zeit war sehr anarchisch, das Alte löste sich auf, das Neue war noch nicht da; man wollte frei und unabhängig sein. Viele falsche Männlichkeitsbilder sind in dieser Phase an die Oberfläche gespült worden. Junge Männer wollten einem Bild entsprechen, wofür sie nicht geschaffen waren. Georgien war zwar auch früher patriarchisch. Jetzt aber gab es keinen Rechtsstaat und keine Form der Bestrafung mehr, allein das Recht des Stärkeren zählte. Männlichkeitsphantasien konnten sich mit Hilfe von Waffen frei im Raum ausbreiten und die Gesellschaft dominieren.
Parallelen zwischen Georgien und der Ukraine: „Es ist kein angenehmes Erinnern“
Die Menschen waren zudem arm und mussten um ihr Überleben kämpfen?
Ja, es gab keine Arbeit! Einige Idealisten haben versucht, an einer Realität festzuhalten, die es nicht mehr gab. Sie haben versucht, die Fassade zu wahren, sind – wie der Vater der Ich-Erzählerin in meinem Buch – weiter in die Akademie gegangen und haben in zerbombten Räumen an mathematischen Formeln gearbeitet und Lexikonbeiträge erstellt. Es gab noch Jobs als Lehrer oder in Krankenhäusern, aber die meiste Zeit galt es zu improvisieren und nebenher Jobs zu akquirieren oder man ging in die Kriminalität. Viele Menschen waren auf die Hilfe von Verwandten aus dem Ausland angewiesen, etliche gingen ins Ausland. Einen Arbeitsmarkt, wie wir ihn kennen, gab es damals in Georgien nicht.
Wie schwer ist es, auf diese Zeit zurückzublicken?
Es ist kein angenehmes Erinnern, man will vor solchen Bildern fliehen. Darum sind beispielsweise Fotos wichtig, sie können zum Erinnern zwingen. Beim Lesen meines neuen Buches blickte meine Mutter plötzlich auf und sagte: „Wie sehr ich diese Zeit hasse!“ Ich glaube, ihre Worte spiegeln wider, wie irrsinnig intensiv diese Zeit war, das kriegt man nicht mehr aus sich heraus.
Interview: Andrea Pollmeier

Eine andere Perspektive auf den Ukraine-Krieg lieferte vor Kurzem ein anonymer Sozialbetreuer, der in Österreich in einer Flüchtlingseinrichtung arbeitet. Demnach könnte das System für Geflüchtete im Ukraine-Krieg in Österreich „eine Überholung gebrauchen“.