Nico Bleutge: „schlafbaum-variationen“ – Flocken aus Licht

Sprache kennt kein Limit: Nico Bleutges Lyrik versteht sich als literarische Grenzerfahrung, und auch in dem Band „schlafbaum-variationen“ leuchtet es utopisch
Es gibt kein Halten. Alles ist in permanenter Bewegung, um stets das Hier und Jetzt zu übersteigen. Denn die bloße Realität ist dem Dichter Nico Bleutge nicht genug, weswegen er uns gleitend in Winterlandschaften oder in die geheimnisvolle Welt unterhalb der Wasseroberfläche führt. Jenseits aller physikalischen Gesetzmäßigkeiten bewundern wir in diesen und anderen Sphären „haubende hügel“ und „flocken von licht“.
Mal „ribbelt die kälte“, verlockt der „goldregen“. Geradezu schwerelos, rauschend durch „morphine / ströme“, lernen wir dabei das Schweben. Wohl auch deswegen befinden sich die meisten wichtigen Motive der Poeme über uns. Häufig fällt unser Augenmerk daher auf den Mond, das Dasein der Vögel, und diese uns allseits umgebende aufgeladene, flimmernde Luft. Wem die Höhenflüge in dem Band „schlafbaum-variationen“ hingegen schwindelerregend erscheinen, kann übrigens jederzeit wieder abtauchen, etwa in den Kopf eines Elefanten oder unter eine Herde Schafe.
Ob wir uns nun am Boden oder in den Wolken aufhalten – gehalten sind wir dabei zumeist in den Träumen. Doch die Texte bergen noch weitaus mehr als nur ein Abdriften in die Gefilde des Sandmanns. Sie erweisen sich nämlich allen voran als eine Feier auf die Poesie selbst, auf ihre ungebrochene Macht, das Sichtbare zu verzaubern.
Das BUch
Nico Bleutge: schlafbaum-variationen. Gedichte. C. H. Beck, München 2023. 117 Seiten, 22 Euro.
Bleibend langsam reisen ...
Möglich wird dies durch die keinerlei Limitierungen unterliegende Sprache. Lautmalereien und Vokalketten tragen zu einem ähnlichen Schwingen zwischen den Versen wie gleichsam zwischen verschiedenen imaginären Räumen bei. Wenn „laute zu farben“ werden, geht der Autor mit uns an die äußersten Ränder des Imaginierbaren. Dann sehen wir lauschend und hören schauend. Überdies werden Widersprüche, die sich in der Wirklichkeit gemeinhin nicht auflösen, nun überwindbar: Man kann „bleibend // langsam reisen“.
Um diese letztlich utopischen Zustände noch weiter zu steigern, bedient sich der 1972 in München geborene Lyriker gerne einer seltenen rhetorischen Finesse, jener des Bildbruchs. So ist von „hundert arten von flug“ die Rede, „in die du kriechen kannst“. Genauso schief muten die Vorstellungen von verquirlender Luft oder vom in Schwärmen vorkommendem Fieber an. Fehler sind derlei gespreizte Wendungen natürlich nicht. Denn Nico Bleutges Lyrik sucht die Grenzerfahrung, ringt in einer krisengebeutelten und von Fatalismus beherrschten Zeit um alternative Bezirke der Fantasie.
Seine Sprachgewalt bringt ein Funkeln und Leuchten in unsere Tage. Voller Pracht entfalten sich die Gedichte, die sich wie zarte Nebel um die Dinge legen und aus dem Ungefähren Neues schöpfen. Und das Schöne: Allem wohnt das sich erneuernde Leben inne. „algen schweben, verwandeln sich weiter / in krill, jeder gedanke zieht eine hellgrüne spur / durch diese flutende landschaft“.
Wo kommen wir an? Was erwartet uns in den Fernen jener Poeme? Es wäre angesichts der Weite und Fülle dieser Texte zu banal, darauf unmittelbar stimmige Antworten zu geben. Gewiss ist nur, dass uns jener Ort mit großer Schönheit empfängt.