Als die Kommunisten in Jugoslawien die Macht ergriffen, floh meine Familie aus Split. Meine Mutter ist Schwedin. Ich habe mich vielleicht darum immer mehr für den Teil der europäischen Geschichte interessiert, der im Schatten der üblichen Geschichtsschreibung liegt, die sich mit Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland beschäftigt. Als Junge schon habe ich nicht verstanden, warum wir nicht über die Berliner Mauer hinüberblickten und uns für die Geschichte der Länder dahinter interessierten. Dieses Interesse an einer anderen Perspektive auf unsere Geschichte hat mich seitdem immer begleitet. An der Küste Kroatiens gibt es mehr Kirchen aus dem 4. und 5. Jahrhundert als irgendwo sonst in Europa. Aber niemand interessierte sich dafür. Als kleiner Junge war für mich klar, dass Venedig das Tor zur Welt war. Ich betrachtete die Stadt damals schon als die letzte Station von Handelswegen, die, aus China kommend, hier ihr Ende fanden. Wir alle in unserem Kontinent Europa sind Kinder von Migranten. Aus Asien, aus Afrika.
Was meinen Sie mit „unser Kontinent“?
Es gibt keinen europäischen Kontinent. Es gibt, geologisch gesprochen, noch nicht einmal einen asiatischen. Asien ruht auf mindestens dreißig verschiedenen tektonischen Platten. Es gibt keine „natürlichen Grenzen“. Alle Grenzen wurden von Menschen gemacht. Wir Menschen trennen gerne. Wir teilen gerne ein. Wenn Sie sich in Ungarn auf ein Pferd setzen, können Sie ohne ein einziges ernsthaftes Hindernis bis China reiten.
Bis einem die Hunnen entgegenkommen.
Die Menschen sind die einzigen wirklichen Feinde des Menschen. Menschen kämpfen. Männer kämpfen. Unentwegt. Es gibt kurze Momente in der Weltgeschichte, in denen die Waffen schweigen. So handelt auch ein Großteil unserer Geschichtsschreibung von Schlachten und Kriegen. Ich interessiere mich für die Zeiten, in denen nicht gekämpft wird. Ich interessiere mich für Frieden und Wohlstand. Ich glaube nicht so recht an die Möglichkeit eines „gerechten“ Krieges. Heute zum Beispiel ist es doch sehr schwierig zu sagen, dass die Gewalt der Gotteskrieger eine böse Gewalt, während die unserer Armeen eine gute Gewalt sei. Ich interessiere mich mehr dafür, wie etwas geschaffen als dafür, wie es zerstört wird. Ich interessiere mich für Kontinuitäten.
Auch die der Globalisierung ...
Die gibt es seit Tausenden von Jahren. Neu ist die Geschwindigkeit. Wir können mit Schanghai twittern. In Echtzeit. Ohne Verzögerung. Das ist wirklich etwas Neues. Aber die Menschheit hat sich schon immer dafür interessiert, was am anderen Ende der Welt los war.
Ihr Buch zeigt uns, dass die Welt nach ein paar Jahrhunderten, in denen Europa eine zentrale Rolle spielte, wieder zurückfindet zu ihrem alten Schwerpunkt: Zentralasien.
Geschichtsschreibung ist immer auch ein Versuch, sich über die Gegenwart klar zu werden. Der Historiker tritt mit seinen Fragen an die Geschichte heran. Aber natürlich kann er keine Voraussagen machen. Vor fünfzehn Jahren veränderten elf Männer und ein paar Unterstützer mit ihren Anschlägen in den USA das Gesicht des Nahen Ostens. Das war nicht vorhersehbar. Sie haben unser ganzes Leben überall auf der Welt verändert. Das zeigt uns, wie fragil unsere Welt ist, mit wie wenig Aufwand sie grundlegend verändert werden kann.
Machen Sie sich Sorgen?
Aber natürlich. Wir stecken noch immer in einer der schwersten Wirtschaftskrisen. Wir haben noch immer niedrige Ölpreise. Gut für unsere Autos. Aber fatal für all jene Staaten, die auf Einnahmen aus fossilen Brennstoffen angewiesen sind. Der wirtschaftliche Druck verunsichert diese Staaten, zu denen auch Russland und manche zentralasiatische Republik gehören, und macht sie politisch unstabil. In meinem Buch geht es um den riesigen Raum zwischen der Türkei und China und um seine Bedeutung in Geschichte und Gegenwart. Vor allem aber zeigt dieser Jahrhunderte umspannende Überblick, dass Staaten, Reiche, Städte und Verkehrswege ihre Zeit haben und dass sie wieder verlieren.
Auch unsere Welt?
Dieser Gedanke drängt sich jedem auf, der sich mit großen Zeiträumen beschäftigt. Weltreiche zerstieben nicht – wie in „Star Wars“ – in einer großen Explosion. Sie siechen dahin. Wie wir Menschen.
Wir leben in einer Übergangsperiode?
Europa ist nicht mehr der Hort von Macht, Reichtum und Möglichkeiten. Auch die USA stehen zurück hinter dem, was gerade in den Ländern der alten Seidenstraßen, auch in China und Indien und Russland wieder ersteht. Wir müssen uns für diesen Raum interessieren, in dem bald 80 Prozent der Weltbevölkerung leben. Was dort falsch läuft, bringt uns in Gefahr. Sie wissen nicht, wie ihr Blutkreislauf, ihre Nervenbahnen funktionieren. Wenn die es aber nicht tun, sind sie am Ende. Mein Buch soll helfen, ein wenig von dem zu verstehen, wovon unser Überleben abhängt. Eurozentrismus ist selbstmörderisch. Der Kampf um Ressourcen findet, das zeigt uns die Geschichte, entweder als Eroberungsfeldzug oder als Kooperation statt. Im Großen und Ganzen fährt man besser mit Kooperation – das lehrt die Geschichte der Seidenstraßen.
Dazu gehört, dass man einander kennt.
Turkmenistan, die zentralasiatischen Republiken, Iran, Kasachstan kommen uns zurückgeblieben vor, und wir wollen ihnen beibringen, sie müssten mehr so sein wie wir. Aber in diesen Ländern gibt es immer mehr Menschen, die uns sagen: Gut, dass Sie uns an die Menschenrechte erinnern. Aber vergessen Sie nicht, wie es vor siebzig Jahren um die Menschenrechte in Europa stand. Der Europäer ist nicht per se ein Menschenrechtler. Hinzu kommt: Die europäische Geschichte, in der sich die Nationen immer wieder gegenseitig zerfleischten, ist kein Modell, dem die vernünftigen Kräfte in diesen Ländern nacheifern möchten.
Wie passt der Terrorismus in dieses Bild?
Der Terrorismus liefert in diesen unübersichtlichen Übergangsperioden eine klare Weltsicht, einen Mythos, der dem Einzelnen, einer Gruppe, einer Religion Wichtigkeit und Bedeutung gibt. Er sagt: Du kannst etwas tun, und es ist entscheidend – für die Sache und für dich – , ob du etwas tust. Im Irak und in Syrien ist der Terrorismus in ein Machtvakuum eingebrochen und versucht es zu füllen. Überall aber hat er den Kampf um die Herzen und Seelen, um Kopf und Verstand der Menschen aufgenommen. Der Islamische Staat predigt das Kalifat, eine rückwärtsgewandte Utopie. Sein Heil in der Vergangenheit zu suchen, ist gerade weltweit sehr in Mode. Trumps „Make America great again“ oder Großbritanniens Brexit. Die Rückkehr zum Nationalismus überall in Europa. Die indische Hindu-Renaissance. Das sind natürlich alles fiktionale Vergangenheiten. Darüber können die Historiker uns aufklären. Was wir aber auch ohne sie wissen sollten: Alles kann wiederkommen. Aber nichts kommt wieder, wie es mal war. Es gibt kein Zurück.
Interview: Arno Widmann