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"Er ist nicht der Teufel"

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Von: Viktor Funk

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Antonio Bonfim Lopes, "Nem", nach seiner Verhaftung 2011.
Antonio Bonfim Lopes, "Nem", nach seiner Verhaftung 2011. © rtr

Der britische Autor Misha Glenny erzählt die Geschichte des brasilianischen Drogenbosses Antonio Bonfim Lopes, genannt "Nem".

Kein Wunder, dass jemand seine Geschichte aufschreiben musste, die Geschichte von Nem. Oder O Nem da Rocinha. Oder Antonio Francisco Bonfim Lopes – Drogenboss, Party-Legende und Wohltäter aus einer der größten Favelas Rio de Janeiros. Der britische Autor Misha Glenny, der sich mit organisierter Kriminalität beschäftigt, hat unzweifelhaft Sympathien für Nem. Es kann daran liegen, dass er in ihm einen außergewöhnlichen Drogenboss sieht, einen „der die politische und soziale Bedeutung der Rolle, die er im Grunde als Präsident, Premierminister und gleichzeitig mächtigster Geschäftsmann einer mittelgroßen Stadt spielte, sehr wohl verstand“. Die Sympathie für Nem kann aber auch ihre Ursache darin haben, dass Glenny die brasilianische politische Elite und die konkurrierenden Polizeien für die sozialen Probleme und die Drogenbanden verantwortlich macht.

Das Buch darüber, wie ein junger Vater wegen fehlender staatlicher Hilfe für sein krankes Kind ins Drogengeschäft einsteigt, ist auch eine Anklage gegen die Privilegierten einer Gesellschaft. Und es ist mehr als nur ein Sachbuch über eine Favela ganz weit weg von Europa. Denn die Erfahrungen, die die Ausgestoßenen in Brasilien machen, sind zwar nicht in ihrer Intensität, aber in ihrer Art die gleichen, die viele Migranten in Europa erleben, besonders in Vorstädten französischer Metropolen, aber auch in Belgien, Schweden und auch in deutschen sozialen Brennpunkten.

Die wichtigste Lehre aus dem Buch: Früher oder später organisieren sich die Vernachlässigten selbst. Auch sie wollen ein gutes Leben, auch sie wollen feiern, konsumieren, ihre Kinder erziehen. Weil sie aber in den Staat, der sich um sie lange nicht gekümmert hat – das gilt für Brasilien, Frankreich und teilweise auch für Deutschland mit seinen Gastarbeitern – kein oder wenig Vertrauen haben, nehmen sie auf seine Gesetze und seine Werte wenig Rücksicht.

„Der Drogenhandel war ein notwendiges Übel“, sagt Nem in einem Interview mit Glenny und bezieht sich dabei auf die Zeit vor seiner Herrschaft in Rocinha, „Das können Sie mir ruhig glauben. Ohne die Dealer hätte jeder gestohlen und gemordet. Wir alle wären bei Anbruch des Tages tot gewesen. Das Business füllte das vom Staat hinterlassene Vakuum. Ansonsten wäre dies ein gesetzloses Gebiet gewesen.“ Die Bosse setzten auf „Beschäftigung“ der jungen Männer im Drogengewerbe, ihre „sozialen Programme“ helfen den besonders Bedürftigen und ihr „Dank“ stellt in Form von Bestechungen die Polizei ruhig.

Für jede Gesellschaft, die die Entstehung einer kriminellen Parallelkultur zulässt, ergibt sich aber mit der Zeit ein gewaltiges Problem: Es ist ungleich teurer und komplizierter, kriminelle Strukturen zu zerstören, als ihre Entstehung zu vermeiden. Jedes soziale Gebilde entwickelt einen eigenen Überlebenswillen, Drogenbosse wissen, dass sie in der etablierten Gesellschaft nicht die gleiche Macht, die gleichen Privilegien, Ansehen oder was auch immer bekommen können, dass sie immer das Brandmal der Underdogs behalten werden. Auch für Nem gab es einen Zeitpunkt, an dem er glaubte, nicht mehr aussteigen zu können.

Glenny beschreibt auch positive Polizeiansätze und eine positive soziale Politik des brasilianischen Staates gegenüber den Favela-Bewohnern. Aber die sozialen Ansätze bei Gewaltprävention müssen sich in Brasilien – und aktuell auch wieder in Europa in Bezug auf Extremisten – gegen rechtskonservative Ideologen behaupten, die eher nach Repression rufen.

Als Präsident, höchster Richter und wichtigster Arbeitgeber in der Favela ist Nem irgendwann überfordert und sucht nach der Möglichkeit, lebend aus dem Geschäft auszusteigen. Das gelingt ihm zwar, aber er landet im Gefängnis. Er sei kein Vorbild, schreibt Glenny abschließend über den Mann, den er viele Stunden lang interviewt hat, „aber er ist auch nicht der Teufel. Hätte er eine anständige Ausbildung genossen, wäre er mit Sicherheit ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden – mit keinerlei kriminellen Ambitionen.“

„Der König der Favelas“ handelt auf den ersten Blick von einem bestimmten Mann in einer bestimmten Ecke Rios, aber eigentlich ist es eine gute Analyse eines Teufelskreises sozialer Probleme und oft falscher politischer Reaktionen darauf. Ein wichtiges und sehr aktuelles Buch.

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