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Niall Ferguson: „Doom“ – Das Universum ist ein dunkler Wald

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Von: Arno Widmann

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Scherzpostkarte 1907: Komet Daniel führte dann aber doch nicht den Weltuntergang herbei.
Scherzpostkarte 1907: Komet Daniel führte dann aber doch nicht den Weltuntergang herbei. © © epd-bild / akg-images

Welche wird es beim nächsten Mal sein? Niall Fergusons große Geschichte der Katastrophen und Katastrophenängste.

Das Buch heißt „Doom – Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft“. Autor ist der „rechte“ Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson, ein Mann, der nicht uninteressant schreiben kann. 713 Seiten hat das Buch. Die Anmerkungen beginnen auf Seite 542. Auch sie sind eine Quelle des Vergnügens. Man sieht dem Autor zu, mit welcher Freude er sich auch noch in die entfernteste Literatur, Comics, Kunst und Aufsätze in Fachzeitschriften der unterschiedlichsten Disziplinen stürzt. Ferguson wurde 1964 in Glasgow geboren. Wer das weiß, der schmunzelt, wenn er in „Doom“ auf die Wendung stößt: „Schottland, das seit dem Sieg über die Jakobiter im Jahr 1746 zu einer wahren Brutstätte für Genies geworden war.“ Ferguson unterrichtete unter anderem in Oxford, Stanford, Harvard und an der London School of Economics. Er ist ganz offensichtlich einer der renommiertesten lebenden Historiker.

Im Inhaltsverzeichnis stehen nicht nur Kapitelüberschriften. Zu jedem der elf Kapitel gibt es hier schon etwa zwanzig Zeilen Erläuterung, und auch der Inhalt von Einleitung und Schluss wird erklärt. Die Einleitung fasst dann auf mehr als 20 Seiten zusammen, was in den einzelnen Kapiteln steht. Der Leser belächelt das zunächst, fühlt sich überreguliert, aber er wird bei der Lektüre immer wieder dankbar zu diesen Erläuterungen zurückblättern.

„Doomsday“ ist im Englischen der Tag des jüngsten Gerichts. Ferguson schildert die Katastrophen, die die Menschheit überlebt hat, und er macht uns deutlich, wie sehr „Untergänge“ sie immer wieder faszinieren. „Doom“ ist ein Buch aus vielen Büchern. Ferguson liebt Details, und er lockt uns in immer neue. Manchmal, wenn man die Lektüre hat unterbrechen müssen, wird man nicht mehr wissen, wie man in die Unterscheidung von DNA-Viren, RNA-Viren, Retroviren usw. gelangt ist oder warum die Auseinandersetzung mit China eine so gewaltige Rolle spielt. Da hilft einem ein Blick in die Übersichten von Inhaltsverzeichnis und Einleitung.

Ferguson ist in jeder Zeile so interessant, weil er jede Frage so lange verfolgt, bis er den Teufel, der bekanntlich im Detail steckt, aufspürt. Da bietet ein Weltbestseller wie „Der dunkle Wald“ des chinesischen Science-Fiction-Autors Cixin Liu Einblick in das Selbstverständnis eines Landes, das sich zwischen Katastrophen – fremden und eigenen – bewegt.

Wer sich schon eingeklemmt fühlte zwischen Donald Trumps Außenpolitik und der chinesischen Doktrin „Ein Land, zwei Systeme“, beginnt zu begreifen, dass er keine Sekunde lang die Hauptstraße des Fergusonschen Gedankengangs verlassen hatte: „So naheliegend es scheint, zwischen natürlichen und von Menschen gemachten Katastrophen unterscheiden zu wollen, so falsch ist es auch.“

Ganz gleich, wie tödlich ein Virus für Menschen sein mag, so lange die kaum Kontakt haben, werden sie problemlos überleben. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit involviert auch, was immer wir an Natur mit uns schleppen. Das Corona-Virus bedurfte der modernen Luftfahrt, um sich in dieser Geschwindigkeit weltweit verbreiten zu können. Wie viele Epidemien verebbten, bevor sie zu einer Pandemie werden konnten? Oder: „Das Carrington-Ereignis 1859 – ein Sonnensturm, der 100 Millionen Tonnen geladener Teilchen in die Magnetsphäre der Erde schleuderte – blieb nur deshalb weitgehend folgenlos, weil die Elektrifizierung noch in den Kinderschuhen steckte.“

Katastrophen gehören zum Universum. Galaxien werden verschluckt und zermahlen. Auch die Erdgeschichte kommt nicht ohne Katastrophen aus. Der Vredefort-Krater in Südafrika bezeugt den Einschlag eines Asteroiden mit einem Durchmesser von etwa 300 Kilometern. Das geschah vor rund zwei Milliarden Jahren. Der Einschlag auf der heutigen mexikanischen Halbinsel Yucatan geschah vor 66 Millionen Jahren. Er soll den Dinosauriern den Garaus gemacht und so dem Siegeszug der Säugetiere den Weg gebahnt haben. „Das Weltall und unser eigenes Sonnensystem haben die Menschheit bislang mit Samthandschuhen angefasst“, konstatiert Ferguson.

Noch etwas macht es so interessant, Ferguson zu lesen. Er liebt es, Gedanken umzudrehen, ihre andere Seite zu betrachten. Zu der berühmten Bemerkung, der Flügelschlag eines Schmetterlings könne einen Tornado erzeugen, bemerkt er, dann könne er ihn – in anderer Konstellation – ebenso auch verhindern. So viel zum Thema Komplexität. Der Welt und des Denkens.

Das Buch

Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit... A. d. Engl. v. Jürgen Neubauer. DVA. 592 S., 28 Euro.

Katastrophen gibt es jede Menge, und es gibt keine, die nicht auch vorausgesagt wurde: Von der Überschwemmung bis zum Vulkanausbruch oder der nächsten Seuche. Woran es fehlt, ist die exakte Datierung und Lokalisierung. Dass ein überhitzter Immobilienmarkt zusammenbrechen wird, weiß jeder. Aber solange man nicht weiß, ob es morgen oder erst in zwei Wochen passieren wird, versuchen Menschen mitzuboomen. Was zu einem umso tieferen Fall führen wird.

Ferguson – das trägt zum Spaß an der Lektüre bei – sieht immer auch sich selbst. Man nennt das Reflexion. Er berichtet, dass er zu Anfang der Epidemie auf der ganzen Welt unterwegs war, um auf die Gefahr ihrer Verbreitung hinzuweisen. Er fragt sich, wie sehr er selbst damit dazu beigetragen haben könnte, sie zu verbreiten.

Fergusons Hauptwohnsitz befindet sich nahe des San-Andreas-Grabens in Kalifornien, an einem der erdbebengefährdetsten Orte der Welt. Aber wie der Rest der Menschheit rechnet auch er nicht damit, dass es unbedingt ihn treffen könnte. 2020 floh er vor dem Virus auf eine Farm in Montana, gerade mal 150 Kilometer von der Caldera des Yellowstone-Vulkans entfernt, der noch immer über eine große Magma-Kammer verfügt. Hier schrieb Niall Ferguson „Doom“.

Der Mensch kümmert sich aber nicht nur nicht um Katastrophen. Er ist auch in der Lage, sie zuzufügen. Nicht nur durch Leichtsinn und Unachtsamkeit, sondern auch mit voller Absicht. Während ich diesen Artikel schreibe, kommt der Welthungerbericht mit neuen verheerenden Zahlen heraus, Landschaften und Städte werden bombardiert. Tropenwälder abgeholzt, CO2 in die Luft gejagt, Atombomben entwickelt, Atomkraftwerke gebaut.

Ferguson erinnert an Überschwemmungen in China, auch an die, bei denen chinesische Truppen den Jangtsekiang umleiteten, um japanische Invasoren aufzuhalten. Zwei Millionen Menschen – die meisten von ihnen natürlich Chinesen – sollen bei diesem Manöver in den Tod geschickt worden sein.

Was tun? Niall Ferguson hält es für ausgeschlossen, Katastrophen vorauszusehen. Nicht weil man nicht weiß, dass eine Immobilienblase und eine Supernova platzen werden. Aber wer kann mit Sicherheit sagen, wann? Das geht prinzipiell nicht. Aus zu vielen Ecken fliegen zu viele Katastrophen auf uns zu. Die meisten verflüchtigen sich wieder. Wie die Wassertropfen aus den höher fliegenden Wolken sich auflösen, bevor sie uns erreichen.

„Schließlich“, schreibt Ferguson an einer Stelle, „lässt es die Unvorhersehbarkeit von Katastrophen ratsamer erscheinen, allgemein paranoid zu sein, als den Apparat auf den falschen Notfall vorzubereiten.“ Paranoia aber, darauf weist er ebenfalls hin, beschädigt unser Gemüt, macht uns dumm, hilft Populisten und Diktatoren, treibt uns also der Katastrophe in die immer weiter sich öffnenden Arme.

Die Fridays-for-Future-Bewegung hat immer noch recht mit ihrer Warnung vor dem Klimawandel. Er ist nicht ferner gerückt – ganz im Gegenteil -, aber 2020 war das Jahr des Corona-Virus, einer immer wieder angekündigten, dann aber doch völlig überraschenden Katastrophe.

Wird China versuchen, Taiwan zu annektieren, wie Putin es mit der Krim tat? Wird das den Kalten Krieg zwischen China und dem Westen zu einem heißen werden lassen? Wo wird welche terroristische Gruppe was für einen Anschlag begehen? Wie wird man darauf reagieren? Die winzige Truppe um Bin Laden war ein Schmetterling, der den Tornado „Krieg gegen den Terrorismus“ hervorrief, ein Billionen-Dollar Projekt mit wohl doch Millionen Toten. Luo Ji, der Held im Roman von Cixin Liu erklärt, wie es ist: „Das Universum ist ein dunkler Wald ... In diesem Wald sind die Hölle die anderen.“

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