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Neuer Roman von Salman Rushdie „Victory City“: Die Verzauberung der Welt

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Von: Arno Widmann

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Jede Zeugung ist eine Überzeugung: frühes Wandgemälde, das die Geburt eines Kindes im Vittala Tempel in Vijayanagara darstellt.
Jede Zeugung ist eine Überzeugung: frühes Wandgemälde, das die Geburt eines Kindes im Vittala Tempel in Vijayanagara darstellt. © Imago

Zu Salman Rushdies neuem Roman „Victory City“, der im April auf deutsch erscheinen soll.

Die Sache könnte so einfach sein: Vijaya heißt Sieg und Nagara Stadt. Vijayanagara ist also die Stadt des Sieges. Sie war von 1346 bis 1565 die Hauptstadt eines nach ihr benannten, sich über ganz Südindien erstreckenden hinduistischen Königreiches. Es sei, sagen die Historiker, zustande gekommen, weil vorher zerstrittene Machthaber sich zusammengeschlossen hatten gegen die immer weiter nach Süden vordringenden Muslime.

Keine Stadt Europas soll damals so groß gewesen sein wie Vijayanagara. Jetzt stehen nur noch ein paar Ruinen davon in der Nähe der heutigen Stadt Hampi. Und nirgendwo in Europa gab es so viel Toleranz wie in Vijayanagara. Einer der Herrscher soll zu öffentlichen Diskussionen zwischen Hindus, Muslimen, Christen und Buddhisten eingeladen haben. Jedenfalls erzählte man uns das, als wir vor 40 Jahren in einer dieser Ruinen saßen und Schutz vor Staub und Hitze suchten. Es ist wenig bekannt über Vijayanagara. Wer es genauer wissen will, der lese den Klassiker „A Forgotten Empire“ des britischen Kolonialbeamten Robert Sewell aus dem Jahre 1900 oder den entsprechenden Wikipedia-Artikel.

Salman Rushdies neuester Roman „Victory City“ wird erst im April – ausgerechnet am 20. – in einer sicher wieder großartigen Übersetzung von Bernhard Robben im Penguin Verlag auf Deutsch erscheinen. Rushdie schildert auf 336 Seiten Aufstieg und Fall des hinduistischen Königreichs von Vijayanagara. Aber natürlich ganz anders als die Historiker das tun. Die Namen, die der Leser und die Leserin z.B. aus dem Wikipedia-Artikel kennen, kommen alle vor. Das Brüderpaar, das die Stadt gründete, der Mönch Vidyaranya und viele andere. Rushdie, so scheint es, hat den Ehrgeiz, alles, was man weiß oder zu wissen glaubt, auftreten zu lassen in seiner Erzählung.

Aber diese Wirklichkeit wird eingebettet in fantastische Geschichten. Die Stadt – alle Gebäude und alle Menschen, die hier wohnen – wächst bei ihm innerhalb weniger Stunden aus Samenkörnern, die die Zauberin Pampa Kampana ausgestreut hat. Sie flüstert jedem Lebewesen auch seine Geschichte ins Ohr, so dass die Leute zu wissen glauben, woher sie kommen, wer ihre Eltern sind. Sie gibt ihnen also nicht nur einen Körper, sondern auch eine Identität. Zu der gehört natürlich dazu, dass sie sie für ihre eigene halten, dass sie sich nicht darüber im Klaren sind, dass sie ihnen eingeblasen worden ist.

Inmitten einer frei erfundenen Traumzeit stehen wir in jedem Satz der Erzählung immer auch mitten in unserer von Identitätskämpfen bestimmten Gegenwart. „Die Dichter lügen“ war einer der Einwände der antiken Philosophie gegen die Poesie. In fast all seinen Büchern hat sich Salman Rushdie mit dem vertrackten Verhältnis von „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ beschäftigt. Sowie man sich im Feld der Wörter bewegt, hat man es mit Metaphern, mit Begriffen zu tun. Nicht mehr mit dem Einzelnen und Besonderen. Wer dichtet, schreibt, spricht, ist angewiesen auf die Wörter, also auf das Allgemeine. Selbst wenn es darum geht, Einzigartiges zu beschreiben.

Im Gegensatz zum Lügner behauptet der Dichter nicht, die Wahrheit zu sagen. Dass es keinen Samen gibt, der, in die Erde gelegt, Menschen oder gar eine ganze Stadt emporwachsen ließe, weiß jedes Kind. Hier wird nicht gelogen, sondern ein Märchen erzählt. Aber kein Märchen ist davor gefeit, dass Fanatiker nicht daraus eine Wahrheit machen. Der Dichter kämpft dagegen an, indem er immer krassere Geschichten erzählt. Zum Beispiel von Frauen, die Bäume hinaufrennen oder durch die Luft gehen können. Wir sehen, wenn wir Rushdies Schilderungen lesen, die blinde Kämpferin aus „House of Flying Daggers“ des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou vor uns. Wer „kulturelle Aneignung“ nur als Schimpfwort kennt und nicht als Lust aufs Unbekannte, der wird mit Salman Rushdie nichts anfangen können. Und mit „Victory City“ schon gar nicht.

Es ist ein Spiel mit Traditionen und Überlieferungen der unterschiedlichsten Kulturen. Sie werden aufgesaugt und eingespeist in eine in New York ausgesponnene Mythologie vom Aufstieg und Untergang eines südindischen Reiches, von Männern und Frauen, von Geschichte und Geschichten, von Wahrheit und Lüge, Kaskaden von Einfällen und Reflexionen.

Rushdies Erzähler behauptet, bei seinem Roman „Victory City“ handele es sich um die Adaptation eines von Pampa Kampana geschriebenen Gedichts. Es soll 24 Tausend Verse gehabt haben und so schön gewesen sein wie das Ramayana. Die Autorin soll die Handschrift in einen Lehmtopf verstaut und mit Wachs versiegelt haben. Kein Wort davon ist wahr. Es hat diese Handschrift niemals gegeben. So wenig wie die „Handschrift von Saragossa“, die der Erzähler des gleichnamigen Romans des polnischen Grafen Potocki in einem verfallenen Gebäude nahe der spanischen Stadt Saragossa gefunden haben wollte. 24 000 Verse ist schon was. Die Ilias hat etwas weniger als 15 700. Die Übertreibung gehört zum Mythos dazu. Sie ist sein Erkennungszeichen.

Manchmal allerdings ist gerade das schrecklich übertrieben wirkende wahr. Die Dschunken, von denen in „Victory City “ die Rede ist, konnten wirklich Hunderte Menschen transportieren. Noch die drei Schiffe des Kolumbus brachten es gerade einmal auf zusammen 90 Mann. Der erfundene Titel des erfundenen Epos lautete übrigens „Jayaparajaya“. Das heißt so viel wie „Sieg und Niederlage“. Man tut wahrscheinlich gut daran, es als ein einziges Wort zu lesen, als eine „Siegniederlage“, die beides in einem ist.

Zur Person

Salman Rushdie wurde 1947 in Bombay geboren. 1961 zog er nach England, drei Jahre später wurde er britischer Staatsbürger. Er studierte Geschichte und arbeitete als Werbetexter.

1975 erschien sein erster Roman, „Grimus“. Internationale Anerkennung erlangte er jedoch erst mit dem 1981 erschienenen Roman „Mitternachtskinder“.

Sein Buch „Die satanischen Verse“ erschien 1988 . In der Folge der Publikation kam es zu dramatischen Ereignissen: Rushdie musste nach einem Mordaufruf des iranischen Revolutionsführers Khomeinis untertauchen. Auch im Versteck schrieb Rushdie weiter und erhielt für seine Werke mehrere Literaturpreise. Der japanische Übersetzer des Buches kam jedoch 1991 bei einem Attentat ums Leben.

Im August vergangenen Jahres wurde auch der Schriftsteller Opfer eines fast tödlichen Anschlags. Im „New Yorker“ (Bild oben) wurde kürzlich ein Interview mit ihm veröffentlicht, in dem er über das Attentat spricht.

Im Jahr 1917 erklärte Max Weber in einem Vortrag vor Studenten, wir modernen Menschen in Europa lebten in dem Bewusstsein, „dass es keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet die Entzauberung der Welt“. Damals nannten die Kinder Thomas Manns ihren Vater bereits „den Zauberer“. Das ist doch ein winziger Fingerzeig darauf, dass Ent- und Verzauberung der Welt sich nicht so säuberlich voneinander trennen lassen, wie Max Weber sich das wünschen mochte. Die Menschheit will stets beides: Ver- und Entzauberung. Manchmal will es derselbe Mensch im selben Moment. So einem schauen wir zu, wenn wir auf Salman Rushdie sehen.

Gehört die Geschichte von der protestantischen Ethik als einer der Quellen des Kapitalismus in den Bereich der Wissenschaft oder ist es nicht doch eher - angesichts des früh entwickelten Kapitalismus in den katholischen italienischen Stadtstaaten – ein gut erzählter Roman?

Platon, der gegen die lügenden Dichter wetterte, war selber einer. Wann immer es ernst wurde, analysierte er nicht mehr, sondern begann zu erzählen. Einen „Mythos“ wie er selbst sagte. Sind „Raumzeit“, „Schwarze Löcher“, der „Urknall“, die „Supersymmetrie“ Mythen oder Wahrheit? Das ist schwer zu unterscheiden, wenn man einmal begriffen hat, dass beides immer mal wieder beides war. Dass die scheinbar so unterschiedlichen Sprachen von Mythos und Logos gerne aufeinander zurückgreifen.

Rushdies „Victory City“ entfesselt um die kärgliche Überlieferung herum einen Ozean von Erzählungsströmen. Allerdings dann doch weit entfernt von den 24 000 Versen des von ihm zitierten Epos. 336 Seiten hat der Roman. Ein Bonsai-Ramayana.

„Überzeugen ist unfruchtbar“ notierte Walter Benjamin 1928. Ich hatte das immer als eine Kritik an der Propagandaarbeit der politischen Parteien der Weimarer Republik verstanden. Jetzt entdecke ich, dass diese Zeile mit „Für Männer“ überschrieben ist. Nun verstehe ich sie ganz und gar nicht mehr. Jede Zeugung ist doch eine Überzeugung, schließt Millionen Unfruchtbarkeiten ein. Wikipedia schreibt: „In jedem Milliliter Ejakulat befinden sich bei einem fruchtbaren Mann zwischen 20 und 60 Millionen Samenzellen“. Verglichen damit ist Rushdies der realen Welt hinzugefügte fantastische eine bescheidene Nichtigkeit. Wenn nicht gar ein Nichts.

Georg Lukács schrieb 1920 – nach seiner Max-Weber-Lektüre – in seiner „Theorie des Romans“, der sei das „Epos der gottlosen Welt“. 100 Jahre später spielen in Rushdies Roman Götter und Geister wieder eine große Rolle. Aber wir tun vielleicht gut daran, all diese „Wahrheiten“ von Lukács und Benjamin, von Platon und Max Weber auch als Beschwörungen, als Bestandteile verlorengegangener Rituale zu begreifen. Sie gehören in Zusammenhänge, die mehr damit zu tun haben, wie man die Welt gerne hätte. Die vorgeblichen Beschreibungen rufen etwas herbei, das es nicht gibt. Das man aber begehrt oder fürchtet. Besonders stark ist die Empfindung, wenn sie Liebe und Tod einschließt.

Die beiden bilden den Grundakkord von „Victory City“. Nicht nur in den erzählten Geschichten geht es darum, sondern die Erzählung selbst hat Tod und Untergang immer im Blick, aber sie liebt mit jedem Adjektiv, in all ihren erregten Aufzählungen das Leben und dessen Vielfalt. Sie feiert es. Wir Leser und Leserinnen feiern es mit.

Wo schrieb Rushdie das? Im Krankenhaus? Wo er nach dem 22. August 2022 lag? Schwer verletzt durch Messerstiche in Hals, Gesicht, Leber und Arm. Oder war er mit dem Roman, diesem Hymnus auf die Vielfalt des Lebens, gerade fertig geworden, als der Attentäter auf ihn einstach? Rushdie hat überlebt. Er lehrt uns, „um der Liebe und Güte willen, dem Tod keine Herrschaft einzuräumen“ über unsere Gedanken. Also auch nicht den Wörtern. Es ist gut, wenn wir uns an ihnen freuen und am Spiel mit ihnen. Aber wir sollen uns nicht bestimmen lassen von ihnen.

Wir sind – Sie haben das gemerkt – der Romantik ganz nahe, aber gleichzeitig Lichtjahre entfernt von ihr. Hören Sie Novalis: „... Und man in Märchen und Gedichten / Erkennt die wahren Weltgeschichten, / Dann fliegt vor Einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort.“ So schön das klingt – Rushdie zeigt uns: Das eine wahre Wort wird immer das falsche sein. Es gibt die vielen Wörter, die vielen Stimmen, das Wispern und Flüstern, das Schreien und Klagen. Den Schmerz und die Lust. Alles zusammen.

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