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Roman von Abdulrazak Gurnah: Gedankliche Zwischenspiele

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Von: Sylvia Staude

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Januar 1964: Die „Sansibar-Revolution“ führt zu Verfolgung und ist Grund, dass viele ins Exil gehen.
Januar 1964: Die „Sansibar-Revolution“ führt zu Verfolgung und ist Grund, dass viele ins Exil gehen. © afp

Abdulrazak Gurnahs ausgreifender Roman „Die Abtrünnigen“.

Es war einmal. Sie hatte es geliebt, ihn diese Worte sagen zu hören“: So erzählt ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler von einem Geschichtenerzähler und der Liebe, die aus einem verführerischen „Es war einmal“ entstehen kann. Abdulrazak Gurnah, 1948 im Sultanat Sansibar geborener Literaturnobelpreisträger von 2021, verbindet aber in seinen Romanen den durchaus konventionellen, einzelnen Figuren und ihrem Schicksal und Umfeld folgenden Erzählstrom gelegentlich mit überraschenden, einen Schnitt oder Zeitsprung machenden Abschweifungen, in denen er auch die Perspektive wechselt. In „Die Abtrünnigen“, einem 2006 unter dem Titel „Desertion“ erschienenen Roman, seinem siebten, schreibt er „Gedankliches Zwischenspiel“ über das Kapitel oder, am Ende, „Eine Fortsetzung“. Plötzlich ist da ein „Ich“; freilich bleibt offen, ob es das des Autors ist.

Menschen verlassen einander, lassen einander im Stich, verlassen wie Gurnah selbst (notgedrungen) ihre Heimat in „Die Abtrünnigen“ – „Desertion“ bedeutet auch „Fahnenflucht“. Das hat mit politischen Umwälzungen, hier mit der sich äußerst schnell vollziehenden Revolution von 1964 zu tun, dem Sturz der arabischen Elite im zuvor Sultanat Sansibar. Die bisher herrschende Klasse wurde verfolgt, getötet, in Camps gesteckt.

Er kann nicht mehr zurück

Der junge Rashid, Erzähler des dritten Teils von „Die Abtrünnigen“, kann im Juli 1963 mit Hilfe eines Stipendiums zum Studieren nach England gehen. Da ist er noch zuversichtlich, seine Familie bald wiederzusehen. Schon ein halbes Jahr später wird ihm der Rückweg verschlossen sein, muss er seine Briefe ganz vorsichtig formulieren, um seine Familie nicht zu gefährden, weiß er, dass deren Briefe wahrscheinlich auch geöffnet werden. Wie sich Unterdrücker-Regime auf der Welt ähneln.

Aber die erste, gleichsam Ableger bildende Geschichte beginnt mit dem Auffinden eines halbtoten Weißen, „wie eine Gestalt aus einem Mythos“. Hassanali, der Krämer des namenlosen Orts, findet ihn – oder wird von ihm gefunden, wie nicht zuletzt er selbst glaubt. So lässt er ihn zu sich nach Hause bringen (obwohl er nun wirklich keinen Platz und kaum Geld hat), ruft eine Heilerin, ruft den „Beinbrecher“, damit sie den leichenblassen Mann untersuchen. Hassanalis Schwester Rehana pflegt den Unbekannten, bis der nahe Plantagenbesitzer Frederick Turner, ein Landsmann des Aufgefundenen, wie sich herausstellt, Martin Pearce zu sich holt. Es ist das Jahr 1899.

Martin und die schöne, von ihrem Mann Azad verlassene Rehana verlieben sich, gegen alle Wahrscheinlichkeit schaffen sie es, Kontakt zu halten, gehen gemeinsam weg. „Die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens überwältigt mich“, folgt der Kommentar im „Gedanklichen Zwischenspiel“. Der Ich-Erzähler dieses Außenseiter-Kapitels stellt fest, „dass ich mich im Falle von Martin und Rehana nicht für eine Abfolge von Ereignissen entscheiden kann, die mir am wahrscheinlichsten erscheint.“ Er tut es dann doch, erzählt eine Abfolge, erzählt eine Geschichte, von der er sich hier und da mit einem „womöglich“ oder einem „vielleicht“ distanziert.

Das Buch

Abdulrazak Gurnah:

Die Abtrünnigen. Roman. A. d. Engl. v. Stefanie Schaffer-de Vries.

Penguin 2023.

400 S., 26 Euro.

Und er schließt: „Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind.“

Eine ziemliche Menge an Geschichten enthält „Die Abtrünnigen“, zu den roten Fäden darin gehört die Kolonialzeit und ihre Wahrnehmung. Plantagenbesitzer Turner, sein Verwalter Burton, und (der eher unwillige, weil fortschrittliche) Pearce trinken und sprechen über Politik. Burton ist der Meinung, der Kontinent braucht europäische Siedler. Turner, im „bombastischen Ton“, spricht von seiner Verantwortung den einheimischen Arbeitern gegenüber, „mich um sie zu kümmern und sie langsam zu Gehorsam und geordneter Arbeit zu lenken“.

Das meiste ist verboten

Später kommentiert der auktoriale Erzähler des zweiten Teils, der das Leben der Brüder Amin und Rashid erzählt, die britische Herrschaft: „Als sie hier waren, wurde alles wie in einer Schule für Affen geführt. Dies ist nicht erlaubt, jenes ist nicht erlaubt. (...) Dann sind sie gegangen und zu ihren eigenen, nicht zu bewältigenden Korruptionen zurückgekehrt, und die Affen haben die Macht übernommen.“

Immer wieder schaltet sich der Erzähler beim Thema Kolonialzeit ein, fasst zusammen, erklärt, um dann im dritten Teil an Rashid als jungen Mann im Exil zu übergeben. Wie in anderen Romanen Gurnahs ist es auch in „Desertion“ so, dass die Figuren, je näher sie an sein eigenes Erleben heranrücken, desto komplexer werden. Über das Exil schreibt der Exilant vielschichtig, berührend, während der Blick auf, zum Beispiel, Hassanali oder Rehana, einer von außen bleibt. (Darum das „Gedankliche Zwischenspiel“?)

Mit Mitstipendiaten (Frauen sind selbstverständlich nicht darunter) reflektiert Rashid den Imperialismus, die unfreundlichen Engländer, das „Gefühl der Kränkung und Herabsetzung“. Und wieder geht es um Geschichten, „unsere eigenen und die Geschichten anderer, belanglose und belangvolle, entsprechend gewürzt und gepfeffert, um die Engstirnigkeit der Leute zu beschreiben, unter denen wir jetzt lebten.“ Für europäische Leserinnen und Leser sind diese Geschichten heilsam.

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