Neue Biografie von Borchmeyer: Mann am Werk

Dieter Borchmeyer stellt nicht das Leben, sondern die Erzählungen und Romane ins Zentrum seiner voluminösen Biografie über den großen deutschen Schriftsteller und Nobelpreisträger.
Eine Biografie über Thomas Mann? Wer würde da nicht neugierig? Kaum eine Familie faszinierte die Deutschen mehr als die Manns. Thomas Mann, der Nobelpreisträger, Exilant und die kräftigste deutsche Stimme, die sich gegen Hitler und die Nazis wandte. Sein Sohn Klaus, der begabte junge Schriftsteller, die eloquente Erika. Die in der Familie für dumm gehaltene Monika, die auf einem ausgerechnet von den Deutschen versenkten Schiff unterwegs nach New York war und in den Wellen des Atlantiks mitansehen musste, wie ihr Ehemann ertrank. Zur Überraschung ihrer Familie überlebte sie die Katastrophe. Und Michael, der seinen Hund eigenhändig tötete und der Schwester von Yehudi Menuhin in den Hals biss, was eklatante Folgen für ihn haben sollte. Und Golo, der Professor. Diese Familie bot mehr Unterhaltungsstoff als jedes Theaterstück. Doch aus der Komödie wurde eine Tragödie, wie man weiß. Erika starb an den Folgen eines Gehirntumors, Golo erging es kaum besser. Klaus und auch Michael - so wird vermutet – töteten sich selbst.
Davon will Dieter Borchmeyer in seinem voluminösen Werk „Thomas Mann. Werk und Zeit“ aber gar nicht erzählen. Bücher über diese Geschichten gebe es ja in Hülle und Fülle, „gute und weniger gute“, betont er. Der Literaturwissenschaftler und Mann-Interpret hat anderes im Sinn: „Bedeutungsvoll ist Thomas Mann für uns durch das Werk, das er geschaffen hat, und nicht durch sein Künstlerleben, so imposant es in vieler Hinsicht auch war.“ Es geht also darum, „das Leben um des Werks, nicht das Werk um des Lebens willen auszuloten“.
Auf 1547 Seiten folgen Leser und Leserin Borchmeyer beim dialektischen Spiel zwischen Leben und Werk Thomas Manns. Aufklärung in diesem Sinne war für den Schriftsteller selbst schon früh ein Anliegen. Sein früher Wurf „Buddenbrooks“ hatte zu heftigen Anfeindungen geführt, da sich die halbe Lübecker Stadtgesellschaft in dem Roman wiederzufinden glaubte - und zwar auf boshafteste Art entstellt. Mann verwies bereits in seinem 1906 publizierten Essay „Bilse und ich“ darauf, dass die Romanfiguren keine wirklichen Personen abbildeten, und verwies auf die Beseelung des Stoffes durch den Dichter. Goethes „Werther“ oder die Erzählungen Turgenjews, ganz zu schweigen von Shakespeare – „er fand lieber, als dass er erfand“, so Mann – hätten sich an die subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit gemacht. Thomas Mann hatte allen Grund so zu argumentieren, ein Rechtsanwalt hatte ihn wegen der „Buddenbrooks“ verklagt.
Schlimmer noch wog die Kritik, er, der große Schriftsteller, habe seine Familienmitglieder preisgegeben, um Stoff für seine Figuren zu erhalten. Borchmeyer verweist auf den Fall von Frido Mann, Manns Lieblingsenkel, in „Doktor Faustus“, wo er ihm die Gestalt des Nepomuk Schneidewein („Echo“) gegeben hat, der zu allen Überfluss auch noch ums Leben kommt. Frido Mann betonte selbst später einmal, dass ihn als Kind die Blicke der Menschen im Sinne von: Das ist also „Echo“, stark zugesetzt hätten. Doch auch hier versichert Mann, dass der Blick des Künstlers ja ein anderer sei als der des Normalbürgers, er sei zugleich „kälter und leidenschaftlicher“.
Nach ersten schriftstellerischen Versuchen gelang Thomas Mann mit den besagten „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ der Durchbruch in der Weltliteratur. Das Werk erschien in zweibändiger Ausgabe 1901 bei S. Fischer in Berlin. Doch erst mit der einbändigen Zweitauflage setzt der rasant wachsende Erfolg ein, der ihm 1929 den Literaturnobelpreis einbringen sollte. Da waren bereits mehr als eine Million Exemplare des Romans verkauft worden. Es geht bekanntlich um den Auf- und den Abstieg einer Kaufmannsfamilie, die sich gegen die aufstrebende Konkurrenz, das Neue, nicht mehr zu wehren vermag. Den ganzen Roman durchwalte „die große Müdigkeit des Endes“, so Mann. Die Auflösung des Bürgerhauses verweise auf eine „weit größere kulturell-sozialgeschichtliche Zäsur“. Nach der Expansion und Aufbruchstimmung der Gründerjahre bestimmt die Gesellschaft die Vorahnung eines Krieges, der alles verändern wird. Ein Gefühl, das auch die Gegenwart kennenlernen musste in der Folge des Ukraine-Krieges und des möglichen militärischen Konflikts zwischen den USA und China. Borchmeyer vermutet, dass Thomas Mann neben vielen anderen Quellen Émile Zolas „Les Rougon-Macquart“ gelesen habe - auch wenn Mann dies immer abgestritten habe. Aber sein Vater, Senator Mann, habe immer schon heimlich Zola gelesen, könne es da nicht sein, dass Mann „nicht schon aus purer Neugier einen Blick in diesen „verpönten Roman“ getan habe? Es liege nahe, Zola habe einen naturalistischen Romanversuch unternommen, und als naturalistisch habe ja auch Mann seinen „Buddenbrooks“-Stoff eingestuft. Aber Gemach! Mann vergaß allzu oft, was er alles herangezogen hatte für seine großen Würfe. In geselliger Runde musste da oft Ehefrau Katia mit Erinnerungen aushelfen. Die europäischen Einflüsse seien auf alle Fälle unverkennbar, was Borchmeyer minutiös nachweist. Das habe dem Roman letztlich den internationalen Erfolg beschert.
Nach den „Buddenbrooks“ folgten einige wichtige Erzählungen, die Mann publizierte. An seinem nächsten großen Roman, dem „Zauberberg“ arbeitete er rund zehn Jahre. Die Arbeit wurde unterbrochen durch den „Donnerschlag des Weltkriegs“, wie Mann berichtet, „der die Grundfesten der Erde erschüttert“. Er hatte den Roman als eine Art humoristisches Gegenstück zu seiner Novelle „Tod in Venedig“ begonnen - ebenfalls als eine Erzählung „mit ungewissem Ausgange“. Als die Friedenswelt in sich zusammenfiel, stand für Mann fest, dass der Ausbruch des Krieges das Ende des Buches bilden werde. Der Stoff ufert immer weiter aus, so dass Mann von einem „Untier von Roman“ spricht.
Durch die Friedens- und Kriegszeiten folgt man den Spuren eines gewissen Hans Castorp, den sein Schöpfer in der Folge von Voltaires naivem Charakter Candide durch eine Welt spazieren lässt, die dem Fluss der Zeit auf eigentümliche Art entzogen zu sein scheint. In einem Sanatorium in Davos besucht Castorp - wie die „Zauberberg“-Leserschaft weiß - seinen Cousin und wird dem rasenden Tempo und zugleich dem Zeit-Tempus des Nacheinander der kapitalistischen Welt entzogen. Stattdessen lebt er in einer strukturierten Welt des Nunc stans, des stehenden Jetzt, einer Idee, die Mann dem Philosophen Schopenhauer verdankt, der von dem Augenblick spricht, in dem sich die Welt als Wille, als stehendes Jetzt offenbart. Der „Zauberberg“ ist wohl Manns ausdrücklichster Zeit-Roman. Als solcher zählt er zur Avantgarde solcher Romane des frühen 20. Jahrhunderts wie „Ulysses“ von James Joyce und natürlich von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Das Buch:
Dieter Borchmeyer: Thomas Mann. Werk und Zeit. Insel, Berlin 2023. 1547 Seiten, 58 Euro.
Seinen Spürsinn für die Tektonik der Zeit hatte Mann bereits mit seiner Erzählung „Mario und der Zauberer“ unter Beweis gestellt, in welcher der Magier Cipolla die Massen nach seiner Peitsche tanzen lässt. Ein Bild, das Hitler mit Reitpeitsche zeigt, bildet eine der Vorlagen für diese zeitdiagnostische Novelle Manns.
Auch hier spielt die private Lebenswirklichkeit in die Dichtung mit hinein: Die Erzählung „Mario und der Zauberer“ schloss sich an zwei Italien-Urlaube Manns an. Der Anstoß zum „Zauberberg“ erfolgte ebenfalls aus Manns Lebenswelt: Ein Lungenspitzenkatarrh seiner Frau Katia hatte zu einem längeren Aufenthalt in Davos geführt, wo sie von Thomas Mann besucht worden war. Auch hier war die Empörung unter den realen Figuren nach Erscheinen des Romans groß.
Der Krieg spielt auch für Borchmeyers Mann-Buch eine Rolle, es ging kurz nach dem Überfall Putins auf die Ukraine in Druck. Der Autor sieht darin eine beängstigende Parallele zum Überfall Hitlers auf Polen - „hier wie da gesteuert von einer imperialistischen Megalomanie“. Ein verbrecherischer Fanatiker unternehme es hier wie da, Freiheit und Menschenrechte, Demokratie und Weltsolidarität zu vernichten. Ein guter Grund sei das, an Manns Rede „The Problem of Freedom“ zu erinnern, die er auf seiner Lecture Tour 17-mal in den USA gehalten habe und dabei fast beschwörend eine „militante Demokratie“ einforderte, die wisse, was sie wolle, „nämlich den Sieg, welcher der Sieg der Gesittung ist über die Barbarei“.
Mann, der aus dem Exil die Nazis wortreich in zahllosen Vorträgen bekämpfte, war noch bis in die 50er und 60er Jahre hinein in bürgerlichen Kreisen Deutschlands eine persona non grata. Borchmeyer erinnert daran, dass die FDP einen Lautsprecherwagen durch die Straßen Düsseldorfs schickte, als Mann aus seinem „Felix Krull“ in der Stadt lesen sollte. Die FDP wollte sich von dem Besuch des Literaten in der rheinischen Stadt distanzieren.
Der Ritt durch Manns Werkwelt, von den frühen Erzählungen bis zu den späten Romanen, ist ein Konkurrenzunternehmen zur Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA), die mit Werk- und Kommentarband einen hohen Standard gesetzt hat. Allein schon von der Seitenzahl übertrifft die GKFA Borchmeyers Werk-Biografie um ein Vielfaches. Dafür folgt man dem Mann-Interpreten, der das Buch „in einem Dauerrausch“ geschrieben haben will, wie er einmal in der „NZZ“ betonte, mit großer Leselust von Kapitel zu Kapitel.
Die große Belesenheit des Schriftstellers in Bezug auf das antike Wissen, die sich in seinen Joseph-Romanen wiederfindet, kommt ebenso zur Sprache wie wichtigen Figuren in Thomas Manns Geisteswelt: Schopenhauer, Nietzsche, Wagner und natürlich Goethe. Neben den bekannten Geistern schleppt Borchmeyer viele Namen heran, die der breiten Menge unbekannt sein dürften, für das Verständnis des Werkes des großen Meisters indes eine wichtige Rolle gespielt haben und ein neues Licht auf Altbekanntes werfen.
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ lautet der erste Satz in Manns „Joseph-Tetralogie“. Borchmeyer ist es gelungen, viel Licht dort hineinzubringen, wo sich sonst vieles im Halbschatten befand. Die Leser und Leserinnen entdeckten immer neue Weiten in den Welten von Manns Werken. Auf mehr als 1500 Seiten nimmt das Wandern, sprich das Lesen, fast kein Ende. Man benötigt viel Zeit, wie die Menschen auf dem Zauberberg. So viel steht fest: Ein großes Buch, gut geschrieben, das zu lesen sich lohnt.