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„Nerds“ von Annekathrin Kohut: Von der Witzfigur zum Genie

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Jerry Lewis in „Der verrückte Professor“, 1963.
Jerry Lewis in „Der verrückte Professor“, 1963. © imago/Cinema Publishers Collecti

In ihrem neuen Buch entwickelt Annekathrin Kohut eine facettenreiche Genealogie des Nerds. Von Jens Buchholz

In dem Animationsfilm „Die Piraten“ lernen die Zuschauerinnen und Zuschauer den jungen Charles Darwin kennen. Er sitzt im Bauch seines Schiffs „Beagle“ und schreibt Tagebuch. Zunächst versucht er sehr sachlich die wissenschaftlichen Entdeckungen des 93. Tages seiner Forschungsreise festzuhalten. Aber dann seufzt er und schreibt: „Ich krieg nie eine Freundin. Ich bin so unglücklich.“ Der Animations-Darwin ist ein klassischer Nerd.

Die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohut hat ein ganzes Buch über die Popkulturgeschichte des Nerds geschrieben. Sie definiert ihn als einen Mann, „…der eine Brille trägt, unsozial und misanthropisch ist, im Keller haust und sich von Tiefkühlpizza ernährt, Allergien hat und unbeliebt ist.“ Außerdem interessiere er sich für Technik, Computer und Comics. Ein unmännlicher Mann, der keine Frau abkriegt. Er hält nichts von Sport, er hält nichts von Mode. „Die Nerdfigur dient dazu, existierende individuelle eigenbrötlerische junge Männer zu beschreiben und zu einem kollektiven, begreifbaren Typus mit ganz spezifischen Eigenschaften und einer relativ eindeutigen Optik zusammenzufassen“, erklärt Kohut.

Kohuts Methode ist spannend. Sie untersucht eine „Sozialfigur“. Dabei bezieht sie sich auf das im Jahr 2010 erschienene Buch „Sozialfiguren der Gegenwart“ von Stephan Moebius und Markus Schroer. „Sozialfiguren“, schreiben die beiden Autoren, „sind zeitgebundene historische Gestalten, anhand deren ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann.“ Der Grundgedanke von Schroer und Moebius ist, dass moderne und komplexe Gesellschaften ausdifferenzierte und individualisierte Identitätsbildungsschablonen anbieten, die historisch wachsen, sich verändern und auch wieder zerfallen können. Die beiden Autoren versammeln in ihrem Buch fast vierzig solcher Sozialfiguren, wie den Fan, den Berater, den Single oder den Kreativen.

Annekathrin Kohut fügt diesem Spektrum den Nerd hinzu. Wie eine Pop-Archäologin legt sie die Mediengeschichte der Nerd-Figur als Identitäts-Schablone Schicht um Schicht frei. So entsteht eine detail- und facettenreiche Genealogie des Nerds. Und fündig wird Kohut hauptsächlich in Serien, Filmen und Romanen. „Es geht in meinem Buch also nicht zuletzt um das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die entsprechende Werte, Sichtweisen und Interessen in die Figur des Nerds projiziert“, schreibt Kohout.

Das Buch:

Annekathrin Kohut: Nerds. Eine Popkulturgeschichte. C.H. Beck, München 2022. 271 S., 16,95 Euro.

Ihren Prototyp findet Kohut in dem 1963 herausgekommenen Jerry-Lewis-Film „Der verrückte Professor“. Der Nerd ist hier noch eine schlichte Witzfigur. Um seine Angebetete zu beeindrucken, entwickelt der grotesk hässliche Professor ein Serum, das ihn in den smarten Buddy Love verwandelt. Anhand der Serie „Happy Days“ (1974 – 1984) und mit dem Film „Breakfast Club“ (1985) zeigt Kohut, wie sich das Nerd-Motiv in das Highschool-Milieu verlagert. Oft ziehen diese Serien oder Filme ihre Komik aus der antiintellektuellen Prämisse, dass der theoretisch hochgebildete Nerd dem Sportler wegen dessen „gesundem Menschenverstand“ unterlegen ist. Der Nerd wird als technikaffiner Soziopath gezeigt, dessen computerartig funktionierender Verstand es ihm unmöglich macht, Zugang zu seinen Gefühlen zu finden. In dieser Ausformung ist der Nerd ein klarer Ausdruck der Technik-skepsis, der sechziger und siebziger Jahre.

Auch in dem 1985 erschienenen Film „Revenge of the Nerds“ werden stilbildend sämtliche Nerd-Klischees bedient: „Alles dreht sich um die Sehnsucht nach Frauen, von denen sie aber verachtet werden…“, fasst Kohut die Handlung des Filmes zusammen. Dass sie am Ende ihre Gegenspieler, die Sportler, durch den Einsatz ihres Intellekts besiegen und damit die Frauen für sich gewinnen, wirft aber ein neues Licht auf die Nerdfigur. Denn mit dem Rückgang der Technikskepsis in den achtziger Jahren und der wachsenden Begeisterung für die Computertechnik verändert sich die Nerdfigur.

Computer-Freaks wie Bill Gates oder Steve Jobs konnotieren die Sozialfigur neu. „Erst verspottet, erwarten ihn in Zukunft Erfolg und Reichtum“, beschreibt Annekatrin Kohut diese neue Facette. Die typische Nerd-Biografie wird jetzt entlang einer klischeehaften Genie-Biografie gestaltet. Jetzt wird dem Nerd seine Seltsamkeit vergeben, denn Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander. Aber wie jeder Erlöserfigur wohnt auch diesen Nerds eine latente Gefahr inne. Hier zieht Kohut Dave Eggers Roman „The Circle“ heran. Die woken Ideale der digitalen Silicon-Valley-Avantgarde verwandeln sich in totale Überwachung.

Der Nerd ist männlich, weiß und heterosexuell. Kohut zeigt zwar, dass es auch weibliche oder schwarze Nerd-Figuren gibt. Aber das seien Ausnahmen. „Die Nerdfigur“, schreibt Kohut, „ist Bestandteil einer gesellschaftlichen Praxis, die die dominante soziale Position von Männern und die damit verbundene untergeordnete Position von Frauen erzeugt und erhält.“ Als Beispiel dienen Kohut hier die Hauptcharaktere der Nerd-Serie „Big Bang Theory“. Diese seien vor allem „liebenswert-nerdige Frauenverachter“. Die Serie, zitiert Kohut die FR-Redakteurin Sonja Thomaser, „… verharmlose Sexismus, verschleiere ihre ,fragwürdige Moral‘, habe insgesamt eine ,konservative Grundstruktur‘ und sei daher ,eine Plage für die Gesellschaft‘.“

Für einige einsame junge Männer ist nämlich eine derartige Misogynie tödlicher Ernst. Es geht ihnen wie dem traurigen Charles Darwin im Piratenfilm. Sie sind einsam und haben das Gefühl, dass sie niemals eine Freundin haben werden. Aus dieser Enttäuschung heraus entstand die frauenfeindliche Internetkultur der Incels, der INvoluntary CELibates. Das sind heterosexuelle junge Männer, die sich hässlich fühlen und glauben, dass sie deshalb weder Sex noch eine Freundin haben. Schuld daran ist ihrer Ansicht nach die Emanzipation der Frauen und die dadurch angeblich geschwächte Position nicht attraktiver Männer. Sich als Incel zu sehen, ist darum oft der Einstieg in den dezentralen und weltweit vernetzten digitalen Faschismus. Das ist eine neue und grausame Facette des Nerds.

Annekathrin Kohut zeigt in ihrem hochinteressanten Buch, wie popkulturelle Identitätsschablonen die Realität beeinflussen und wie die Realität diese Identitätsschablonen beeinflusst. Sie führt vor, wie eine Sozialfigur über die Jahrzehnte charakteristische Facetten hinzugewinnt, ablegt und sich immer wieder erneuert. Und sie zeigt, wie viel es über den Rest der Gesellschaft aussagt, wenn diese eine Sozialfigur wie den Nerd braucht.

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