Die Nase der Jungfrau Maria

Sein traurigster und lustigster Roman seit langem: In „Straße der Wunder“ variiert John Irving seine Lebensthemen.
Von Frank Junghänel
Mit jedem von John Irvings Romanen, dies hier ist sein vierzehnter, gerät man einen Fuß tiefer hinein in die Lebens- und Sterbenswelt dieses Erzählers. Alle drei, vier Jahre ein neues Buch von ihm, meistens so um die 800 Seiten, die sich locker lesen lassen, deren Konsum aber auch zu einer gewissen Gewohnheit geworden ist, weil man ja bereits ungefähr weiß, was einen erwartet.
„Es kommt einem so vor, als würde man eine lange Strecke zurücklegen“, lässt der Schriftsteller John Irving in seinem neuen Roman „Straße der Wunder“ den Schriftsteller Juan Diego sagen, „aber im Grunde beackert man altes Terrain – man bleibt auf vertrautem Gebiet.“ Es geht also wieder ums Schreiben. Es geht auch wieder um die Suche nach dem verlorenen Vater. Den Platz in der eigenen Geschichte. Zirkuskinder kommen vor, Prostituierte, ein rührender Transvestit, ein seelenvoller Arzt, ein Vietnamkriegsveteran. Es gibt einen schlimmen Unfall und eine lange Reise an der Ort einer Prophezeiung.
Der Schriftsteller Juan Diego, 54 Jahre alt, ist auf einem Nachtflug unterwegs von New York in die Bucht von Manila, wo er einem alten Freund einen letzten Wunsch erfüllen möchte. Da er an Herzrhythmusstörungen leidet, hat ihm seine Kardiologin Dr. Stein Betablocker verordnet, deren „reduzierende Wirkung“ er mit Viagra zu bekämpfen denkt. Dabei besteht die Gefahr, mit den Pillen durcheinanderzukommen. Einmal verwechselt er sie auch ganz bewusst, was im Zusammenspiel mit zwei engagierten Leserinnen, Mutter und Tochter, zunächst zum erwünschten Resultat führt, ihn später jedoch nachdenklich macht.
Der junge „Müllkippenleser“
Die Nebenwirkungen seiner Medikamente lassen ihn nicht nur während des Fluges immer wieder wegdämmern, das passiert ihm jetzt ständig. Dann befindet er sich in ein und demselben Absatz des Romans auf einmal nicht mehr in der Maschine nach Manila, sondern auf einer Müllkippe im mexikanischen Oaxaca, wo er gemeinsam mit seiner Schwester Lupe in der Obhut des Jesuitenpaters Pepe im Waisenhaus aufwächst. Es ist 1970 und der vierzehnjährige Juan Diego, der einmal ein erfolgreicher Schriftsteller werden wird, macht seine ersten Lektüreerfahrungen als „Müllkippenleser“, wie ihn die Padres nennen, als sie beobachten, wie er von Zeit zu Zeit Bücher aus dem Feuer der Deponie rettet.
Seine Schwester Lupe, eine der wirklich wundervollsten Figuren in John Irvings neuem Ensemble, kann Gedanken lesen und in die Zukunft sehen, aber alleine Juan Diego versteht, was sie mit ihren Worten meint. Denn das Mädchen spricht in einer Sprache, die nicht annähernd nach Spanisch klingt.
Und so wird es Lupe nicht verhindern, dass ihre Mutter Esperanza auf groteske Weise ums Leben kommt, als sie die Statue der Jungfrau Maria abstaubt und dabei von der Leiter fällt. „Sie starb schon, bevor sie fiel“, sagt Lupe später vieldeutig über ihre Mutter. Und Juan Diego hält die Nase der Madonna in der Hand.
Das ist so dermaßen Irving! Mitunter liest sich der Roman wie ein Remix sämtlicher Vorgängerromane. Vor allem geht es also mal wieder um John Irving und wie er die Welt sieht, natürlich. Als Leser und Rezensent zählt man längst dazu, weil man ja auch altes Terrain beackert. Die Wahl des Sujets, die Selbstbespiegelung, die Moralaposteligkeit, ihm all das vorzuwerfen gehört seit mindestens zwanzig Jahren zum Ritual, mit dem jedes neue Buch von der Kritik begrüßt wird.
Zuletzt hatte sich Irving darin gefallen, mit diesen Vorwürfen zu kokettieren, indem er sein redundantes Schreiben selbst ironisierte. Das klang dann allerdings eher beleidigt als souverän. In der „Straße der Wunder“ ist das anders, weil sich der Schriftsteller hier einen Kunstgriff erlaubt, der sein mäanderndes Erzählen, dem man oftmals einen strengeren Lektor gewünscht hätte, nahezu erzwingt. Indem er sich auf die Spur der Erinnerung begibt, kann er sich ein freies Assoziieren in Raum und Zeit erlauben. Erinnerungen folgen ihrem eigenen Lektorat. Sie kommen und sie gehen in den merkwürdigsten Momenten. Sie tauchen auf und sie tauchen ab. Manchmal genügt schon ein Duft, sie zu erwecken, manchmal ein Geräusch. „Man kann sich die zeitliche Abfolge der Ereignisse in seinen Träumen nicht aussuchen, genauso wenig wie die Reihenfolge der Ereignisse, durch die man sich an jemanden erinnert.“
In John Irvings traurigstem und lustigstem Roman seit langem wird seinem Helden am Ende die Welt verloren gehen. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach dem Leben, das er gern geführt hätte.