1. Startseite
  2. Kultur
  3. Literatur

Die Geschichte drehen und wenden

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Christian Thomas

Kommentare

Guntram Vesper.
Guntram Vesper. © picture alliance / Swen Pförtne

Guntram Vesper, der mit dem Roman „Frohburg“ eine deutsche Jahrhundertchronik geschrieben hat, ist im Alter von 79 Jahren gestorben.

Wohin mit sich, nicht nur einmal im Leben, denn Heimat war dahin. Guntram Vesper hat den Heimatverlust nicht verwinden können. Damit sie ihm nicht abhandenkam, hat er sich an sie in seinen Büchern gehalten, in hoch verdichteten Sätzen in seiner Prosa, in seiner Lyrik: „Ich wähle den Weg über/ein mittleres Gebirge./ Zu den Zugvögeln sag ich ja/ Sonnenaufgänge/ versäume ich,/ der Weg läuft westwärts./ Feinde gibt es dort keine./ Leider/ auch keine Freunde.“ Woher er kam, darauf ist Guntram Vesper immer wieder zurückgekommen. 1941 in Frohburg, der „kleinen Stadt in Sachsen geboren“, ist Vesper am Donnerstag in Göttingen gestorben.

„Irgendwann holt man / die alten Blätter hervor / und sucht / nach dem ersten Strich / der alle späteren / festgelegt hat //“. Der erste Strich – gestochen scharfe Sätze, basierend auf einer gestochen scharfen Handschrift, so zu sehen auf den inneren Einbandseiten seines Romans „Frohburg“, mit dem Vesper 2016, nach zwei Jahrzehnten im Abseits erlesener Kleinverlage, die exquisite Rückkehr in eine größere literarische Öffentlichkeit erlebte, in die Wege geleitet durch den Schöffling Verlag. Mit einem Mal ein viel bewunderter Autor. Ruhm? Ein Triumph? Die 1002 Seiten gewürdigt durch den Leipziger Buchpreis.

Dabei kam der Autor von weither – sich erinnernd an das Kind, das zusah, wie die Rote Armee Frohburg von den „Amis“ übernahm. Der Jugendliche bekam die DDR zu spüren, 1957 der Tag, als es „beim Abendbrot hieß, morgen gehen wir weg“. Mit der Flucht in den Westen gelangte er in den Alltag der Dörfer Hessens, in ein mitleidloses Milieu. Gegen soziale Kälte wurde Kaltschnäuzigkeit in Stellung gebracht. „Eingeliefert“ in Friedberg suchte der Schüler erste Kontakte zu Schriftstellern und literarischen Zeitschriften, so zu Günter Eich und zu V. O. Stomps, dem Verleger der Eremiten-Presse, der 1964 „Fahrplan“ herausbrachte, Vespers ersten Gedichtband.

Der Auftritt 1967 in der Pulvermühle, bei einem besonders legendären Treffen der legendären Gruppe 47, wurde zur Katastrophe – einer „Hinrichtung“, die anwesende Literaturkritik war halt hart drauf.

Was dem Autor da zustieß, darauf ist der Erzähler zurückgekommen. Unvergessen Vespers vehementer Text über dieses Autorentreffen, sein Rückblick, 1983. Böse, wie er das Gerangel, das Geschiebe um die besten Plätze schon draußen vor der Tür, auf dem Parkplatz, beschrieb, namentlich Eitelkeiten etikettierte. War es das antiautoritäre Verhalten gegenüber den Autoritäten des Literaturbetriebs, das Vesper zum Außenseiter machte?

Gewiss war’s Agit-Prop, der am Anfang der Autorenlaufbahn, des Lyrikers Guntram Vesper stand. Seine frühe Prosa, kritische Heimatprosa in den Bänden „Kriegerdenkmal ganz hinten“ oder „Nördlich der Liebe, südlich des Hasses“, wurde bereits regelmäßig heimgesucht von Misstrauen und Missgunst. In die Nachkriegsgegenwart der Prosa Vespers griff eine schreckliche Vergangenheit aus. Übergriffig zeigte sich vor allem eine grenzenlose Unbarmherzigkeit. Der Generationenvertrag bestand aus einem harten, beschädigten Leben.

Seit den 80er Jahren lebte Vesper eine Abseitsexistenz, Jahrzehnte hindurch registrierte er die gesellschaftlichen Turbulenzen aus der Distanz ruhiger Sätze. Was er zu sagen hatte, verwahrte er stoisch zwischen Buchdeckeln. Worum es ihm ging, war nicht naheliegend, es war weitsichtig: „Spätestens seit dem Beginn unseres Jahrhunderts ist das Zeitalter der Flüchtlinge und Exilanten angebrochen, mit immer besser erkennbarem Schreckensgesicht.“ Aus der Weitsicht sprach auch der Rückblick auf den „Versuch, Fuß zu fassen, mit dem Inhalt von zwei, drei Koffern“, nach der Flucht, „dreihundert Kilometer weiter westlich“.

So erzählt in „Frohburg“, vom Verlag als „Erinnerungsgemenge“ bezeichnet. Vesper schickte ihm ein Motto Theodor Fontanes voraus: „Für etwaige Zweifler also sei es Roman!“. Zugleich der Hinweis, dass nichts in dem Buch vorzufinden sei, was sich nicht auch ereignet habe und dazu zählen schrecklichste Ereignisse, ein Doppelmord, bestialische Entstellungen von Mädchen, standrechtliche Erschießungen, eine grässliche Enthauptung.

Ausgelöst durch den Besuch in der Wohnung des toten Bruders, wird im Roman die Erinnerung des Erzählers in Bewegung gesetzt durch Gemeinsames, Geerbtes in einer hoffnungslos überfüllten Wohnung, vollgestopft auch mit Büchern, darunter die eine oder andere Erstausgabe, signiert sogar, Raritäten von Günter Eich oder Ernst Bloch. Sie setzen den zurückgebliebenen Erben auf die Fährte. Aufräumend in der Wohnung des toten Bruders, dreht und wendet der Erzähler die Gegenstände, die Erinnerungen – die Geschichte selbst.

Bald schon ist es die Erinnerung an die frühe Kindheit, bei ihr der Kampf des Jungen gegen seine spinale Kinderlähmung. Sein Glück, dass er in die Hände einer Kapazität gerät. Zugleich das Wissen darum, dass dieser Fachmann verbrecherische Experimente an Patienten während der NS-Zeit durchführte. Kein Detail, das nicht hineinpasste ins große Ganze, und dieses Ganze ist ein schreckliches Insgesamt, nämlich ein „gnadenarmes Leben“.

Viel Erzähltes vom Vater, dem Tierarzt, darunter die Fahrt der beiden Eltern, frisch verliebt und verlobt, auf einem Motorrad, es ist ein wilder, unbeschwerter Ritt durch Sachsen. Keine Überraschung, wenn Schriftsteller Dialekt sprechen lassen, wenn sie den Ton treffen, im Heimeligen das Befremdende, das Vertraute und das Verstörende gleichermaßen. Eingesprengselt Wortwörtliches, zugleich vom mündlichen Ausdruck geprägte Sätze, ein mäandernder Erzählfluss. Bewusstsein, das sich verströmt.

Wenn es schon mal „Schnitt“ heißt, weil eine ganz andre Geschichte erzählt werden soll, dann handelt es sich bei dem Romanganzen dennoch nicht um so etwas wie Filmschnittprosa, vielmehr um ein fabelhaft erzähltes Panorama, nach dem Motto: übrigens – und schon eine andere Episode, weiterer Erinnerungsstoff in so etwas wie Apropos-Prosa.

„Alles berührt sich, aber die Sprünge“, hieß es bereits 1979 in der Geschichte „Reise in eine verhangene Landschaft voller Katastrophen“ – in dem Satz eingekapselt ein poetologisches Programm über das Erzählen von Geschichten, die „ganz weit weg begonnen“ haben, um „Raum und Zeit zu überwinden“. Episoden, lose verknüpft, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Auf einer Romanseite durchmisst die Erinnerung Raum und Zeit, auf einem Radius von wenigen Kilometern gleich mehrere Jahrzehnte. Im Bannkreis der Vergegenwärtigung tun sich jählings Zeitsprünge auf. Abgestürzte alliierte Bomberpiloten werden gelyncht, auf dem eigenen Schreibtisch die Steuererklärung ausgebreitet, Stasispitzel während der Leipziger Montagsdemonstration erlebt.

Bei allem immer ganz Ohr. Hat doch jede Zeit ihre Worte, die Alten sprechen anders als die Jungen. Schon deswegen ist der Autor ein Ohrenzeuge auch, und zur fabelnden Sensibilität gehört, dass er ein Ohr hat für Motorengeräusche, deren Idiom, den Unterschied zwischen dem Blubbern und Brabbeln eines Sechszylinders.

Der Erzähler ist manchmal nicht nur einer, auch schon mal drei, der Ich-Erzähler, der Vater, ein Bekannter, drei Stimmen. Wenn sich Vesper in seinem Werk gelegentlich wiederholt hat, wenn sich Passagen in seinen Prosatexten wortwörtlich wiederfinden, dann doch nur, weil, was einmal hochkonzentriert formuliert worden war, nicht der Änderung bedurfte. Vesper hat seine Prosa lyrisch durchrhythmisiert, in seinen Gedichten hat er den erzählenden Ton angeschlagen. Was er stoisch verfolgt hat, hat er nicht dogmatisch durchgezogen.

Vesper interessierte sich für die Ausnahme, jenseits der Normen und Rituale, von denen in seinen Büchern so viel die Rede ist, in seinen kurzen Erzählungen – oder in „Frohburg“. Die Rituale haben Gewalt über die Menschen. Sie sind eine schlimme Krücke und ein unerbittlicher Schraubstock.

Frohburg wurde zum eigenen Deutschland in einem erschreckenden Deutschland. Frohburg ist der unheimliche Ort in einem Jahrhundert der Heimatlosigkeit – der Gnadenlosigkeit. Schon 1985 wählte Vesper für einen seiner Gedichtbände den Titel „Frohburg“, 2018 wurden seine gesammelten Gedichte unter dem Titel „Tieflandsbucht“ veröffentlicht. Auf Frohburg ist er immer wieder zurückgekommen, in seiner Kurzprosa, als Lyriker. Frohburg, der geschichtsgesättigte Ort, ist nur ein anderes Wort für eine feste Burg der Gewalt, die die Menschen wehrlos macht, auch würdelos. „Lichtversuche Dunkelkammer“, der Text aus dem Wendejahr 89, war eine Frohburg-Erinnerung, eine in Fragmenten. Der erste Satz für eine Frohburg-Geschichte stand rasch – aber die Geschichte blieb aus. So intensiv der Frohburg-Spuk – diesmal folgte das Schweigen.

Guntram Vesper hat seine Leserinnen und Leser offene Särge und Kriegerdenkmale umstehen lassen. Zugeknöpft die Trauer, geschwätzig das Selbstmitleid. Mitgenommen hat er sein Publikum in die eigenen vier Wände bedrückender Verhältnisse, heimgesucht von einem erbarmungslosen Leben, so in den Geschichten „Nördlich der Liebe und südlich des Hasses“, worin es an einer Stelle einsilbig heißt: „Jetzt sagt auch die Tochter etwas. Wenn die Angst, sagt sie. Pst, sagt die Mutter. Ruhe jetzt, schreit der Vater noch lauter.“

Einsilbig? Wer so spricht, weiß nicht mehr ein noch aus. In seinen Prosatexten hat Guntram Vesper gestochen scharfe Sätze verdichtet. Dass „Frohburg“ dann auf 1000 Seiten in den langen Sätzen eines wie vogelwild erzählten Romans ausschwingt, hat auch damit zu tun, dass die Wahrheit immer wieder nicht weiß, wohin mit sich.

Auch interessant

Kommentare