Aus dem Mund des Honigprinzen

Marcel Beyers Frankfurter Poetikvorlesung fasziniert, verwirrt und überzeugt auch als Buch.
Der Titel „Das blindgeweinte Jahrhundert“ beschwört naheliegend das 20. herauf, genauer: dessen erste Hälfte mit ihren Massenvernichtungen und Kriegszerstörungen. Er ist indes nicht eindeutig: Weint das Jahrhundert über sich selbst, oder „wird“ es von den Opfern „geweint“? Und noch mehr rätselt der Leser darüber, weshalb die Tränenbeispiele in Marcel Beyers neuem Buch – hervorgegangen aus seinen Frankfurter Poetikvorlesungen des Wintersemesters 2015/16 – ausnahmslos aus den friedlicheren Zeiten nach 1945 stammen.
Da ist zum Beispiel Heintjes Hit „Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“ von 1967, der zum Gruselinventar von Beyers Kindheit bei seinen Großeltern gehört. Aber Vorsicht! Wie der Autor herausgefunden hat, stammt der Text aus der Synchronfassung eines italienischen Spielfilms von 1941 – Heintje wird so zum „Wiedergänger eines Wehrmachtssoldaten, der Abschied nimmt“. Da ist das brutale Jahrhundert im Hallraum der Literatur dann doch wieder da – und sei es als Kitsch-Echo im Mund eines niederländischen Honigprinzen.
Die neue Arbeit des Büchner-Preisträgers fällt genialisch und verwirrend durch das etablierte Textsortenraster: Sie ist eine – durchaus unsystematische – essayistische Phänomenologie des Tränenflusses und seiner Inszenierung anhand zahlreicher Beispiele. Sie ist aber auch Autobiografie, angespitzte Erzählung und Metareflexion über das Verschwimmen von Fakt und Fiktion. Ein Spiegelkabinett mithin wie die eingangs entfaltete Situation im Berliner Zoo, wo ein Schimpanse dabei fotografiert wird, wie er den Fotografen fotografiert.
Hat Adorno nun am 22. April 1969 bei dem spektakulären Busenattentat im Frankfurter Hörsaal geweint oder nicht? Dass er es getan habe, mutmaßlich im Licht seiner eigenen Erfahrungen mit den Deutschen – das behauptet 30 Jahre später der TV-Historiker Guido Knopp, der damals in der ersten Reihe saß. Aber vielleicht irrt sich ja auch Knopps kameragleiches Auge, oder er verwechselt Adorno mit dem Schnulzensänger Adamo, der seinerzeit seine „Träne auf Reisen“ schickte. Vielleicht ist Sprache, Literatur ja doch authentischer als die nur scheinbar dokumentarische Fotografie.
Beyer assoziiert sich auf Anhieb wüst durch den intellektuellen und politischen Zeitgarten: Da geht es um Helmut Kohl und Rilke, da werden Witold Gombrowicz und Ignatius von Loyola kurzgeschlossen, da stellt sich Roland Barthes neben Franz Josef Strauß. Nicht zu vergessen die Traumfantasie um den Medientheoretiker Friedrich Kittler, der den Studenten Beyer stark beeinflusste. Dabei ist die Motivkomposition bemerkenswert genau – etwa wenn Barthes’ Unfalltod an dem des eigenen Großvaters gespiegelt wird. Nicht alles mag schlüssig sein, aber dank Beyer eröffnen sich immer wieder überraschende Denkwege: Vielleicht lässt sich mit der Geschichte der Tränen tatsächlich eine Archäologie des 20. Jahrhunderts betreiben.